Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
passierten mindestens drei schlammzeitliche Nasenbeinbrüche im Wirtshaus Mandling. Die Schneeschmelze hatte 2001 jedoch viel zu früh, nämlich im Februar, eingesetzt und war außergewöhnlich schnell vonstattengegangen, was zu Überschwemmungen und Hochwasser geführt hatte, woraufhin der März bereits im Schlamm versank. Einigen Bauern kam sogar ein Wort über die Lippen, das in Fernsehen, Radio und den überregionalen Tageszeitungen kursierte, die hin und wieder bis nach St. Peter am Anger gelangten: Klimawandel. Und dieses sollte eines der wenigen Wörter bleiben, die trotz des dominanten St.-Petri-Dialekts von allen in Hochsprache artikuliert wurden. Man konnte mit diesem Wort so wenig anfangen, dass es nicht in die angestammte Ausdrucksweise integriert wurde, sondern auf ewig so verharren sollte, wie es ihnen der Nachrichtensprecher in die Köpfe gesetzt hatte.
Der achteinhalbjährige Drittklässler Johannes A. Irrwein empfand diese lang andauernde Schlammzeit nicht als merkwürdig, sondern als lästig. Er konnte weder dem Gatschketchen noch der Gatschballschlacht etwas abgewinnen, was ihn als Zielscheibe umso begehrter machte. Die Grünfläche inmitten des Dorfplatzes war eine einzige Suhle, die kargen Bäume und Sträucher schienen dem Schlamm zu entwachsen, und wenn es regnete, breitete sich die Suppe über die gesamte Dorfplatzstraße aus. Wenn Johannes nach der Schule zu Doktor Opa ging, nahm er für gewöhnlich den Weg mitten über den Dorfplatz. Aber nicht heute. Er hatte zwar signalgelbe Gummistiefel an, die ihm bis über die Knie reichten, doch es war ihm unangenehm, sich dreckig zu machen. Das Arzthaus lag der Schule, vom Dorfplatz aus gesehen, diametral gegenüber. Es stand nicht mehr am Platz selbst, sondern am auslaufenden Hochplateau hinter dem Pfarrhof. Der Weg rundherum war viel länger als mitten hindurch und brachte Johannes unter dem Regenmantel ins Schwitzen. Seine Schultasche ließ ihn von Weitem aussehen wie eine Ameise, die sich mit einem Vielfachen ihres Körpergewichtes abmühte. Johannes fror, seine Hände waren weiß und rissig, und er konnte es kaum erwarten, endlich ins Warme zu kommen. Der Geruch von Desinfektionsmittel, Spiritus und alten Büchern in Doktor Opas Wohnung war an Tagen, an denen die Fenster geschlossen und die Heizung eingeschaltet waren, besonders intensiv.
Die Glocke oberhalb der Eingangstür bimmelte entsetzlich laut, als Johannes A. Irrwein die Tür öffnete. Im von Raufasertapeten gedämpften Eingangsbereich gab es eine Tür zur Gästetoilette, eine in den Wartebereich, eine ständig versperrte ins Behandlungszimmer sowie die Treppe in den zweiten Stock, zu den Privaträumen. Oftmals kamen Patienten außerhalb der Sprechzeiten, und damit der Doktor diese hörte, bevor sie hoch in seine Privaträume marschierten, hatte er dem Greißler dessen Kaufmannsglocke abgeluchst.
»Doktor Enkel?«, rief Doktor Johannes Gerlitzen vom Obergeschoss.
»Doktor Enkel meldet sich zum Forschungsdienst bei Doktor Opa!«, schrie Johannes zurück und mühte sich ab, seine schwere Schultasche die steilen Stufen hinaufzuhieven. Dienstags, mittwochs und donnerstags arbeitete Ilse ganztags im Kindergarten, und Großvater Gerlitzen hatte seine Ordinationszeiten so gelegt, dass er sich an diesen Tagen nachmittags seinem Enkel widmen konnte. Für den kleinen Johannes waren es die schönsten Tage der Woche. Doktor Opa und er erforschten die Welt, weswegen er die Schultasche stets vollgestopft zu ihm schleppte, wer weiß, welche Instrumente und Bücher er benötigte. In der Küchenzeile siedete Wasser, und Johannes’ runde Aluminiumbrille beschlug, als er das Wohn-Koch-Ess-Zimmer betrat. Der Großvater suchte im Regal nach einem Dosenöffner, und Johannes, der damit beschäftigt gewesen war, seine Brille vom Kondenswasser zu befreien, bemerkte ihn erst, als er von ihm umarmt wurde.
»Na, wieso hat der Juniorforscher heute so lange nach Hause gebraucht?«
»Unpassierbarer Dorfplatz, Doktor Opa, alles voller Schlamm!«
»So, so, Klimawandel in St. Peter. Und ich dachte, dieser Ort wäre gegen jegliche Form des Wandels völlig immun.«
Johannes legte den Kopf schief, wollte darüber nachdenken, doch dann fiel ihm ein, dass er Grünzeug für Schlappi mitgebracht hatte, und prompt sauste er davon, um sein Kaninchen zu füttern, das sich auf die Hinterpfoten stellte, als er vor dem Käfig niederkniete und ihm frischen Löwenzahn und Karottenstängel durch die Gitterstäbe steckte.
Weitere Kostenlose Bücher