Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
einzubringen. Eine Mure hätte mit einem Schlag die Arbeit von Wochen zunichtegemacht, doch Karl Ötsch hatte unterschätzt, wie kurz der Hang davor stand, abzurutschen. Vor allem den Feldweg hatte er unterschätzt. Hinunter war er mit dem Traktor problemlos gekommen. Bergauf, mit dem Holzanhänger, war der Feldweg jedoch unter der Belastung weggebrochen und der Traktor umgestürzt. Johannes Gerlitzen hatte immer gewusst, dass sich der besserwisserische Nachbar einmal fatal irren würde, aber in diesem Moment wünschte er, es wäre unter anderen Umständen passiert.
Die Männer hinderten Johannes Gerlitzen daran, zu Karl Ötsch hinabzusteigen, solange der Traktor nicht gesichert war. Das Feuerwehrauto, das als einziges Fahrzeug stark genug war, einen solch großen Traktor zu sichern, konnte den Hang nicht befahren, da es bei einem kleinen Abrutsch sofort mitgerissen werden würde. Das Drahtseil der Winde war nicht lang genug, man hatte schon ein längeres Seil organisiert, jedoch musste erst die Winde damit bespannt werden. Zurzeit blieben alle Männer auf dem Asphalt, der Traktor war vorher erneut wenige Zentimeter gerutscht, es war nur eine Frage der Zeit, bis der Hang nachgeben würde. Johannes Gerlitzen stand im Regen und spürte, wie sein Herz raste. Er hatte in seiner Zeit als Dorfarzt von St. Peter vieles erlebt, lange schwere Krankheiten begleitet, Kindheitsfreunde sterben sehen, doch niemals hatte es im friedlichen St. Peter eine solch akute Situation gegeben. Noch nie hatte er einen Unfall erlebt, bei dem schnell gehandelt werden musste. Johannes atmete tief durch und riss einem der Feuerwehrmänner die Taschenlampe aus der Hand.
»Sand Se wahnsinnig, des is z’gfährli!«
»Da Hang könnt rutschn!«, schrien ihm die Feuerwehrmänner hinterher, aber Johannes Gerlitzen hatte seine Entscheidung getroffen. Er war nicht nur wegen seiner Familie aus der Stadt zurückgekehrt, er wollte für das ganze Dorf der Arzt sein, der im Notfall zur Stelle war, und nun wurde er gebraucht. Vorsichtig und zielsicher arbeitete er sich zu dem umgestürzten Traktor hinab.
Johannes A. Irrwein staunte nicht wenig, als er das Wirtshaus, wo er Doktor Opas Einsatz vermutet hatte, zwar offen und erleuchtet, aber menschenleer vorfand. Er ging zurück nach draußen und betrat den Wirtshausgarten. Vorsichtig tastete er sich die Wände entlang, hoffte, dass man von draußen sehen könnte, ob irgendwo in den Hinterräumen Licht brannte. Das Wirtshaus war eines der seltsamsten Gebäude in St. Peter. Es war tief in die Erde gebaut und unendlich verzweigt, viel zu groß für so ein kleines Dorf, und so erstreckte sich das Haupthaus weit in den Garten hinein, und es dauerte lange, bis Johannes es umrundet hatte. Kaum war er jedoch bei der Nordseite angelangt, hörte er vom Nordhang her Männerstimmen, die hektisch durcheinanderriefen. Johannes war verwirrt und überlegte, dass sie sich im Freien geprügelt haben mussten. Das hatte er einmal beim Mittagessen mit seinen Eltern erlebt, wie der Wirt zwei Männer nach draußen geschickt hatte, die sich beim Schnapskartenspielen in die Haare geraten waren. Er hatte sich im Wirtshausgarten schon öfter vor Klassenkameraden versteckt, deshalb wusste er, dass es hinter den Brombeersträuchern eine Tür zum Nordhang gab. Der Garten des Wirtshauses war dort um anderthalb Ebenen höher als die Straße. Es gab einen kleinen Trampelpfad vom Gartentor hinunter zur Straße, aber als Johannes dort angekommen war, nutzte er ihn nicht. Aufgrund der erhöhten Lage konnte er von der Stelle am Gartenzaun den Nordhang überblicken, doch was er sah, war keine Schlägerei. Er brauchte ein paar Augenblicke, um das umgestürzte Monster, das hilflos im Scheinwerferlicht beregnet wurde, als Traktor zu erkennen. Er erkannte allerdings sofort, wer der Mann war, der sich über den Hang tastete, vorsichtig und elegant, eindeutig, um zu helfen. Johannes war nicht verwundert, als er all die wichtigen Dorfmänner untätig auf der Straße stehen sah. Er hatte schon immer gewusst, dass sein Großvater der mutigste von ihnen war. Dennoch ärgerte er sich, dass all die anderen zu faul waren, um ihm wenigstens die Taschenlampe zu tragen oder den Arztkoffer abzunehmen. Johannes lächelte und legte die Hand an das Gartentor. Sein Doktor Opa hatte den Traktor erreicht und beugte sich über den Verletzten. Johannes würde hinunterlaufen und ein guter Assistent für den Doktor sein, damit er die Taschenlampe nicht mit den
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