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Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Titel: Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vea Kaiser
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Ammermann, um die ankommenden Schulneulinge auf ihrem Gang bergauf zu beobachten. Dieses Ritual pflegten die beiden seit so vielen Generationen von Tafelklässlern, dass keiner von ihnen mehr wusste, wann sie damit angefangen hatten. Aus diesem Anlass trug Mitzi Ammermann auch ihre goldene Krankenkassenbrille. Die langjährige Reinigungskraft war zwar keine hübsche, aber eine sehr eitle Frau, und so trug sie die Brille normalerweise nur in ihren eigenen vier Wänden. Das schränkte sie zwar in ihrem Beruf als Putzfrau ein, da ihr viel Dreck entging, doch ihrer Meinung nach hatten sich Diener des Herrn nicht darüber zu beschweren, ob Lurch an den Sesselleisten klebte oder ein Spinnennetz alle vier Jahreszeiten überdauerte. Pater Wilfrieds Funktion innerhalb der Congregatio war jene des Gemeindepfarrers. Er war Seelsorger für alle, die im katholischen Einzugsbereich des Klosters lebten. Die Tafelklässler zuordnen zu können, war für ihn Berufsehre – ein guter Schäfer musste seine Herde kennen. Mitzi Ammermann hingegen saß wöchentlich beim Friseur und lauschte täglich vor und nach der Arbeit den neusten Tratschereien im Stadtcafé, sie war gern über alle Skandale der Kleinstadtelite im Bilde.
    »Was soll ich denn tun? Tät ich bei einer reichen Familie zusammenräumen, könnt ich mir die ganzen Schweinereien im Nachtkasterl anschauen, aber bei den Herrn Patres liegen ja nur Bibeln und Rosenkränze herum. S’ Unanständigste ist noch die Maria neben dem Bett«, sagte sie entschuldigend, wenn man sie kritisierte, all die Lokalblätter lediglich nach Hinweisen auf Intrigen im Stadtrat zu durchsuchen.
    Kurz vor Beginn der Aufnahmefeierlichkeiten, als die meisten Schüler und Eltern schon unterhalb von Putzfrau und Pater in das Klostergebäude gegangen waren, blieb ein mattblauer Kombi vor der Auffahrt stehen, dessen Motor im Leerlauf rasselte, als hätte er eine schreckliche Lungenentzündung. Pater Wilfried und Mitzi Ammermann verrenkten ihre Köpfe, als sich die Tür öffnete und ein hagerer kleiner Knabe mit übergroßer Schultasche herauskletterte, woraufhin der Kombi eilig davonraste. In all den Jahrzehnten ihrer Tafelklässlerobservation war es noch nie vorgekommen, dass ein Kind allein zum Schulanfangsgottesdienst gegangen war, denn die Eltern wurden gesondert eingeladen und betrachteten es in der Regel als große Ehre, ihre Kinder am ersten Tag zu begleiten.
    »Kennen Sie den?«
    Mitzi Ammermann polierte ihre Brille im Kittel, doch auch saubere Gläser gaben keinen Aufschluss darüber, wer der Junge war. Pater Wilfred schüttelte den Kopf. Dieses Lamm gehörte nicht seiner Lenker Herde an, und beide beobachteten es verwundert.
    Die Kastanien beiderseits des Weges waren so hoch und breit, dass ihre Kronen nahtlos miteinander verwachsen waren. Johannes bestaunte die mächtigen Bäume, die älter als das Kloster selbst schienen. Der Boden war gesäumt von fettglänzenden Rosskastanien, die aus ihren beim Herabfallen geplatzten Stachelhüllen lugten, und auf einem Teppich von tabakfarbenen fingrigen Kastanienblüten schritt Johannes A. Irrwein den Hügel bergauf, bis er vor der Pforte des Klosters angelangt war. Die großen Flügeltüren standen weit offen, hell leuchteten die frisch gestrichenen, weit in den Himmel ragenden Befestigungsmauern in barockem Gelb. Nebst der Pforte blickte eine Statue in den Himmel. Johannes entzifferte das Schild auf ihrem Sockel. Es war der heilige Koloman, Schutzpatron des Klosters und der Schule. Er hielt sich an einem Pilgerstab fest und deutete mit der freien Hand einladend Richtung Eingang. Da fiel Johannes auf, dass über der Pforte ein großer, aus Bronze gegossener Schriftzug angebracht war. Er flüsterte die Worte, verstand jedoch nicht, was sie bedeuteten. Einen Augenblick lang verharrte er und beobachtete die Kinder, die an ihm vorbeigingen. Alle hatten sie Mutter, Vater oder meist beide Elternteile an ihren Seiten. Die Mamas und Papas lächelten, hatten perfekt geföhntes Haar, die Frauen Seidentücher um den Hals, goldene Broschen am Revers, die Männer bewegten sich fließend in angegossen sitzenden Anzügen, und zum ersten Mal sah der kleine Johannes A. Irrwein Einstecktücher. Alois Irrwein war nicht einmal zu Weihnachten so sauber wie all diese Väter an einem Montag. Aber was Johannes vor allem beunruhigte, war, dass all diese Eltern und ihre Kinder die Inschrift bereits zu kennen schienen. Unbeschwert lachend schritten sie durch die Pforte. Anscheinend

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