Blau wie Schokolade
Verbitterung stürzte auf mich ein wie ein Tsunami.
Die Frau sah mich an. Sie tat mir leid – wem nicht? –, doch ich verdrängte das Gefühl. Sie würde mein Mitleid bestimmt nicht wollen. Ich winkte ihr zu.
Zögernd winkte sie zurück, so als ziehe ein unsichtbarer Faden ihre Hand in die Höhe.
Ich schaute wieder auf die Felder, die verfallenen Schuppen und das große weiße Haus, einen knappen Kilometer entfernt auf einer kleinen Anhöhe.
Erschreckend.
Furchtbar.
In diesen Schuppen wohnten Leute.
Ich lief an den Hütten vorbei, an Dreck und Unrat, vorbei an dem Gestank, der sich um mich wand wie eine Viper. Dann rannte ich durch das Feld zurück zum Weg. Ich fand den Fluss und lief weiter. Das Wasser rauschte, blubberte und gurgelte, die Bäume über mir wiegten sich im Wind.
Der Fluss konnte mir für den Rest des Tages keinen Trost spenden.
Null.
Je weiter ich mich von der Bakterienhölle entfernte, desto wütender wurde ich. Bald war ich stinksauer und wäre nicht erstaunt gewesen, wenn Flammen aus meinem Kopf geschossen wären.
Obwohl ich momentan neben mir stehe und elend durchs Leben wanke, ist mir doch eines klar: Ich habe schlicht und einfach viel Glück gehabt.
Die Menschen bilden sich so viel ein auf ihr Leben, ihren Erfolg, auf ihr Geld, ihr Haus, ihr Spielzeug, doch letzten Endes haben sie alle nur Glück. Ich hatte Glück, in Amerika geboren zu sein statt in einem Kriegsgebiet wie Somalia oder Afghanistan. Ich hatte Glück, liebevolle Eltern zu haben, die keine Drogen nahmen. Ich hatte Glück, einen Vater zu haben, der hart arbeitete und selbst noch nach seinem Tod für die Familie sorgte. Ich hatte Glück, eine Mutter zu haben, die darauf bestand, dass ich das College abschloss. Ich könnte noch erwähnen, dass ich immer Nahrung, Wasser, Strom und sanitäre Einrichtungen zur Verfügung hatte.
In anderen Bereichen meines Lebens hatte ich nicht so viel Glück gehabt, aber die Tatsache, dass ich mein Auskommen hatte, Geld verdiente, alle Möglichkeiten hatte, das war pures Glück.
Und diese Menschen in den Schuppen waren ein Beispiel für null Glück.
Ich war so erzürnt, weil mir diese Sache sehr naheging.
Viel zu nah. Ich konnte mir das nicht noch einmal ansehen. Nicht mal ansatzweise konnte ich mir vorstellen, wie es war, dort zu leben. Ich konnte nicht an die elenden Entbehrungen denken, unter denen man dort zu leiden hatte.
Ich machte einen Abstecher ins Spirituosengeschäft und kaufte den besten Scotch, den es dort gab.
Am Abend ging ich mit der Flasche an den Fluss und betrank mich besinnungslos. Rosvita schüttelte mich wach. Zuerst hielt ich sie für einen Roboter, der meinen Kopf mit einem Bohrer bearbeitete und tausend schmerzende Gehirnzellen zu Brei machte.
»Aufstehen, Süße«, sagte Rosvita. Sie trug einen wehenden, seidenen grünen Morgenmantel mit Spitze und dazu weiße Handschuhe. »Dein Körper ist überflutet vom Gift des Alkohols, deine Leber kämpft dagegen an, deine Nieren werden in die Mangel genommen, dein Blut ist gesättigt davon. Du musst jetzt mit ins Haus kommen.«
Ich nickte, schloss die Augen und fiel rücklings ins nasse Gras.
Sie schüttelte mich wieder wach.
»Geh weg, Rosvita! Heute schlaf ich hier. Dein Geld geb ich dir natürlich trotzdem.«
»Ich werde nicht zusehen, wie du die Keime der Erde hier vom Gras aufnimmst. Komm jetzt, meine Süße!«
»Nein.«
»Doch!« Ich spürte wieder den Bohrer an meinem Kopf.
»Bitte, Jeanne! Ich mache mir Sorgen.«
Dieser Satz ließ mich aufhorchen.
Mannomann! Diese Leute vom Land mit ihren Sorgen raubten mir noch den letzten Nerv.
Ich hievte mich hoch, lehnte mich gegen Rosvita und wankte in mein blaues Himmelbett.
Zwei Stunden später stand ich auf und beugte mich über den weißen Porzellanthron. Sechs Stunden lang. Ich bin überzeugt, ich erbrach meine kämpfende Leber, meine zerdrückten Nieren und mein mit Alkohol überschwemmtes Blut.
Ich kam mir vor wie menschlicher Abschaum.
Warum musste ich nur so viel trinken?
Den Großteil des nächsten Tages verschlief ich. Frühstück gab es um vier Uhr nachmittags, was ganz besonders lecker sein kann. Dazu kippte ich ungefähr ein Fass Kaffee hinunter, dann ging ich in den Ort, um ein Geschenk für Rosvita zu kaufen.
Da ich ihren Kunstgeschmack kannte, besuchte ich drei Galerien. Jeder Galerist schaute mich so hoffnungsvoll an, dass ich überall ein Bild kaufte. Eines nahm ich am Abend mit hinunter zu Rosvita. Es zeigte eine peinlich
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