Blau wie Schokolade
Tannen, Häusern am Fluss und einer Hauptstraße, die man in fünf Minuten abgelaufen hatte, und jetzt kam ich in eine Stadt, in der es die Menschen eilig hatten, in der die Autos umhersausten, Hochhäuser in den Himmel wuchsen und sich mehrere absurd hohe, beängstigende Brücken über den Willamette River spannten.
Auf dem Weg in die Stadt weinte ich, weil mir danach war. Meine Schultern bebten, ich klang wie ein Warzenschwein im Todeskampf. Wie ich meinen Nervenzusammenbruch genoss!
Auf der Brücke ging ich vom Gas. Das Auto hinter mir hupte, der Fahrer zeigte mir einen Vogel, doch ich ignorierte ihn und richtete den Blick starr nach vorn, um bloß nicht nach unten schauen zu müssen, tief hinunter in den Fluss, in dem es vor Menschenfressern oder Monsterhaien bestimmt nur so wimmelte. (Habe ich es schon erwähnt? Ich mag keine Brücken.)
Als ich den Diamond District erreichte, war mein Gesicht rot gefleckt, mein Lippenstift verschmiert. Die Wimperntusche war mir übers Gesicht gelaufen, sammelte sich in den Fältchen. Ich bin ein verrückter bunter Vogel, redete ich mir ein und schaute in den Spiegel, ein verrückter bunter Vogel.
Ich machte mich frisch, so gut es ging, fuhr mir mit den Fingern durch die goldenen Locken und zupfte meine Kleidung zurecht.
Der Aggressionsbewältigungskurs fand in einem Gebäude statt, das früher ein Lagerhaus gewesen war. Der ganze Stadtteil war früher ein heruntergekommenes Industriegebiet, hatte Rosvita mir erklärt. Viele leerstehende Fabriken, Lagerhallen, alte Häuser. Aber die Lage war einfach zu gut, um das Viertel verkommen zu lassen: in unmittelbarer Nähe zum Fluss, zur Innenstadt, zum Einkaufen und zur Arbeit.
Deshalb wurden die Fabriken entweder abgerissen oder umgebaut. Verglaste Gebäude schossen wie Pilze aus dem Boden. Noch war der Diamond District nicht fertig, was einen Teil seines Reizes ausmachte. Die Straßen waren nicht perfekt asphaltiert, verfallene Fabriken lehnten sich an neue, schlanke Bauwerke, und alles hatte einen gewissen morbiden Charme. Ich fand einen Parkplatz in der Nähe der angegebenen Adresse, überquerte eine Straße mit riesengroßen Schlaglöchern und musste einem großen Kipplaster und einem Bagger ausweichen.
Ich warf noch einen Blick auf die Adresse. Die Therapeutin hatte mir gesagt, ich sei richtig, wenn ich Bier riechen könne. Das konnte ich jetzt. Als ich das Gebäude umkreiste, merkte ich, dass ich vor einer Brauerei stand.
Ich habe eine lange, selige, widersprüchliche Beziehung zu Bier. Direkt jetzt eins oder drei oder vier herunterzustürzen stellte eine große Versuchung dar.
Aus zweierlei Gründen hielt ich mich zurück: Erstens sollte ich pünktlich sein, zweitens musste ich noch fahren. In den letzten zwölf Jahren meines Lebens war ich oft betrunken gewesen, aber nie, nicht ein einziges Mal, war ich nach dem Trinken noch gefahren.
Das ist so wie mit meinem zweiten Grundsatz: Zu verschiedenen Zeiten in meinem Leben habe ich mich wie eine Schlampe aufgeführt, fühlte mich nach dem Sex jedoch einsamer und ausgestoßener als davor, aber ich fange grundsätzlich nichts mit dem Mann einer anderen Frau an.
Das sind so ungefähr meine einzigen beiden festen Grundsätze, aber bislang bin ich gut mit ihnen gefahren.
Auf der Suche nach der Eingangstür drehte ich eine Runde um das Gebäude und versuchte dabei, den Gedanken an goldenes Bier zu verdrängen. Schließlich entdeckte ich die Tür, grün gestrichen, links daneben ein Messingschild, auf dem stand: EMMALINE HALLWYLER , THERAPEUTIN .
Der Eingangsbereich war dunkel, doch ich sah eine Treppe rechts von mir und stieg sie hinauf. Ich nahm an, dass das Gebäude deutlich über hundert Jahre alt war, der Staub schien hier schon ebenso lange zu liegen. Es war so dunkel wie in einer Höhle.
Ich erreichte den Treppenabsatz und sah das nächste Schild mit der Aufschrift » EMMALINE HALLWYLER , THERAPEUTIN « und einem Pfeil nach oben. Ich gelangte in einen strahlend weißen Flur. Die weiße Farbe war dick aufgetragen, wie Zuckerguss. Am Ende des Ganges hingen auf beiden Seiten Schwarzweißfotografien. Es waren Nahaufnahmen von Menschen, die starke Gefühle zeigten: Freude, Überraschung, Trauer, Verzweiflung, Erschöpfung, Melancholie, Panik. Insgesamt mussten es um die dreißig Bilder sein, alle schwarz gerahmt.
Auf dem Schild über den Fotos stand: FOTOGRAFIERT VON EMMALINE HALLWYLER . Na, super! Da würde sie mich knipsen können, wenn ich herumschrie, mein Gesicht
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