Blau wie Schokolade
saubere Landhausküche: Eine Windböe wehte durch die rotkarierten Vorhänge, ein kleines Mädchen saß auf einem Hocker und aß ein Hörnchen mit Schokoladeneis. Der Boden glänzte, die Arbeitsflächen waren leer.
Rosvita freute sich so, dass sie mit dem Bild im Arm herumtanzte und verkündete, der Künstler wisse, wie wichtig eine saubere, sterile Küche sei. Sie umarmte mich und tanzte weiter.
Ich ging hinauf zu meinem Zimmer, auf den Balkon, und betrachtete die Sterne.
Ich hatte immer noch einen dumpfen Schmerz im Kopf und fühlte mich wie ausgekotzt. Doch immerhin lebte ich noch.
Ich wusste, dass ich das Trinken in den Griff bekommen musste, ehe es mich umbrachte.
Ich dachte über den Auslöser für mein Komasaufen nach, das verkommene Arbeiterlager.
Als die Frau vor der Hütte die Hand gehoben und mir zugewinkt hatte, sah ich meine tote Großmutter in der Tür stehen. Meine lustige, lachende, liebevolle Großmutter.
Rosa Sanchez kam in Mexiko zu Welt. Sie lebte und arbeitete mit ihren Eltern als Migranten auf verschiedenen Farmen in den Vereinigten Staaten. Sie blieben über die Erntezeit, dann zogen sie weiter. Meine Großmutter hatte mir erzählt, dass sie als kleines Kind zehn Stunden am Tag auf dem Feld gearbeitet hatte und ihr Kopf so heiß wurde, dass sie glaubte, ihr Haar verbrenne. Sie hatte mir erzählt, dass sie auf den Anwesen reicher Grundbesitzer in Scheunen wohnte und neben den Tieren schlief. Dass ihr kalt war, dass sie Hunger hatte, müde und verängstigt war. Sie hatte mir von dem weißen Farmer erzählt, der ihrer Mutter nachstellte. Als ihr Vater sie vor dem Mann verteidigte, verlor er seine Arbeit. In jenem Sommer hatten sie nicht genug zu essen. Sie erzählte mir, dass sie erst Lesen und Schreiben lernte, als sie meinen Großvater kennenlernte und er es ihr beibrachte.
Es war ein erbärmliches Leben.
Und da stand sie nun vor meinem inneren Auge in der Tür jenes jämmerlichen Schuppens.
Mein Großvater, ein weißer Amerikaner mit norwegischen Vorfahren, lernte meine Großmutter kennen, als sie mit ihrer Familie auf der Farm seiner Eltern arbeitete.
»Wir waren seelenverwandt, Jeanne«, erzählte mir Großvater. »Ich wusste es im ersten Moment, als ich sie sah, weil mir fast das Herz aus dem Hals sprang. Ich hätte wegen ihr fast einen Herzschlag bekommen.«
Mein Großvater war neunzehn, als sie sich kennenlernten, meine Großmutter achtzehn. Zwei Jahre später heirateten sie.
Großvater schüttelte seinen großen Kopf mit dem kurzen weißen Haar. »An manchen Tagen konnte ich diese Frau nur zum Schweigen bringen, indem ich sie küsste. Leidenschaft und Liebe überwinden kulturelle und sprachliche Schranken, mein liebes Mädchen, vergiss das nicht. Unsere Seelen sprachen miteinander, selbst wenn wir uns nicht verstehen konnten. Aber was konnte sie reden, du lieber Gott! Immer am Reden, Reden, Reden.«
Die schwarzhaarige Tochter meiner Großeltern, meine Mutter, heiratete meinen Vater, einen weißen Amerikaner mit blondem Haar und britischen Vorfahren. Ich sprach mit meiner Großmutter und meiner Mutter spanisch, obwohl meine Großmutter auch Englisch beherrschte. Sie sagte, sie liebe das Land, sie sei Amerikanerin und wolle mit ihren Nachbarn sprechen können, doch mit mir redete sie spanisch, damit ich nie vergaß, woher meine Familie stammte, woher wir kamen.
Und obwohl mein Großvater sagte, meine Großmutter würde ständig reden, konnte er ohne ihr Gerede nicht leben. Eine Woche nach ihrem Tod, nachdem er ihr eine wunderschöne Beerdigung bereitet hatte, legte er sich unter den großen Kirschbaum auf ihrem Land, wo sie angeblich alle vier Kinder gezeugt hatten, schloss die Augen und starb.
Nach sechzig Jahren Ehe war er hilflos ohne seine Frau. Bis zu dem Zeitpunkt war er völlig gesund gewesen. Die Ärzte sagten, er hätte einen Herzinfarkt gehabt.
So ein Blödsinn. Er starb an gebrochenem, einsamem Herzen, und er starb freiwillig.
Als ich an die Liebe meines Großvaters zu meiner Großmutter dachte, an meine Großmutter, die als Kind stundenlang vornübergebeugt Erdbeeren gepflückt hatte, und an ihre arme Mutter, die von einem bösen Großgrundbesitzer belästigt worden war, weil er sie für seinen Besitz hielt, schwor ich mir: Ich würde diese Menschen aus diesen Schuppen herausholen.
5 . KAPITEL
Der Aggressionsbewältigungskurs fand in Portland statt, das bedeutete für mich eine fünfzigminütige Fahrt nach Westen. Eben noch war ich in einem Ort mit hohen
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