Blau wie Schokolade
(Julie Anne meinte sechs, Theo schätzte vier Millionen.) Warum blieb der Mond oben am Himmel? (Gott hätte ihn an der Sonne festgeklebt, erklärte Tommy.) Woraus bestand die Sonne? (Aus Stein, sagte Jeanne Marie. Aus brennendem Karamell, meinte Theo.) Sollte sich die Familie noch einen Hund anschaffen? Oder doch lieber einen Hamster? Könnten sie nicht auch einen Affen haben? Warum denn nicht?
Später am Abend verkündete Tommy mit schokoladenbeschmiertem Gesicht: »Ich möchte heute hier schlafen!«
»Ich auch!«, rief Julie Anne und hüpfte aufgeregt. »Ich bei Tante Jeanne schlafen, ich bei Tante Jeanne schlafen, ich bei Tante Jeanne schlafen!« Die Froschzunge hüpfte mit.
»Ich auch, Mom, bitte!«, bettelte Jeanne Marie.
»Ich hab Pinkie nicht mitgenommen, aber ich kann auch ohne ihn schlafen, Tante Jeanne«, sagte Theo.
»Nein, heute nicht«, rief Charlie dazwischen und unterband jegliches Argumentieren.
»Also«, sagte ich und warf meine Zöpfe nach hinten. »
Wenn
ihr dann aber mal bei mir schlaft, habe ich schon für alle ein Bett. Wollt ihr es sehen?«
»Ist das da hinten in dem alten Haus?«, fragte Tommy mit großen Augen und wies auf das Gästehaus, das eine Weile eine Leiche beherbergt hatte.
Ich lachte. »Nein! Nur wenn du ungezogen bist.«
Die Kinder bekamen Angst.
»War nur ein Witz. Kommt mit!«
Alle stapften hinter mir die Treppe hinauf, auch Jay, Charlie und Deidre. Vor lauter Aufregung hatte ich sie noch nicht nach oben geführt. Die drei Erwachsenen hatten schon bei der Führung durchs Erdgeschoss gestaunt, und Deidre hatte immer wieder betont, wie wunderbar sie mein Haus fände.
Ich stellte Tommy und Theo vor ihr Zimmer und die Mädchen vor die andere Tür.
»Okay, jetzt sagt den Zauberspruch und macht die Türen auf«, befahl ich.
»Was ist denn der Zauberspruch?«, fragte Jeanne Marie.
»Agga-dagga-duuu!«, rief Julie Anne. »Agga-dagga-duuu-duuu-duuu!« Sie drückte die Tür auf.
Um ihr in nichts nachzustehen, stürzten auch Theo und Tommy in ihr Zimmer.
Das Lachen der Kinder sagte mir alles, was ich wissen musste.
Charlie besichtigte beide Zimmer zusammen mit Jay und Deidre und nahm mich in die Arme. Er zitterte leicht. »Jeanne, mein Schatz, ich danke dir.«
»Daddy!«, rief Julie Anne und wackelte mit ihrem Tutu. »Warum weinst du?«
»Weil du so eine tolle Tante hast, so eine wunderbar tolle Tante.«
Deidre umarmte mich ebenfalls. Auch ihre Wangen waren feucht.
»Für mich warst du immer der unglaublichste Mensch, den ich kannte, Jeanne«, sagte Deidre zu mir, als wir unter den funkelnden Sternen am Fluss saßen.
»Wie kannst du nur so etwas denken?« Ihre Bemerkung entsetzte mich. »Ich bin immer nur gemein und unhöflich zu dir gewesen, Deidre, ich wundere mich, dass du überhaupt mit mir redest.«
Deidre legte den Arm um mich. Genau deshalb hatten alle sie so gern.
»Wir haben uns so gut wie nie gesehen. Ich habe kläglich versagt, als Schwester, Schwägerin und Tante.«
»Ich habe verstanden, warum du uns nicht sehen wolltest, Jeanne. Wirklich. Aber du hast uns nicht im Stich gelassen. Du bist auf vielerlei Weise für uns da gewesen, und ich wusste immer, dass du augenblicklich zur Stelle wärst, wenn wir in der Patsche steckten.«
»Das ist echt edel von dir, Deidre, aber es stimmt nicht.«
Deidre schwieg eine Weile, und wir lauschten dem Fluss. »Weißt du noch, als Jeanne Marie sich den Kopf aufgeschlagen hatte? Wer hat ihr damals ein riesiges Stofftier-Einhorn geschenkt? Es war das Einzige, worüber sie sich gefreut hat. Als ich eine Lungenentzündung hatte, hast du zwei Wochen lang ein Kindermädchen bezahlt, das auf die Kleinen aufgepasst hat. Die Kinder waren noch so klein, Julie Anne noch ein Säugling, ich muss echt sagen, es war fast schon eine Freude, die Lungenentzündung zu haben, weil ich die ganze Zeit im Bett liegen, Liebesromane lesen und Schokolade essen konnte.« Deidre schaute in die Ferne. »Das Kindermädchen fehlt mir bis heute.«
Die arme Deidre! Sie war so krank gewesen. Ich konnte mir nicht vorstellen, vier Kinder, eine Lungenentzündung und einen rund um die Uhr arbeitenden Mann zu haben.
»Als wir letztes Jahr eine Woche in den Yellowstone-Nationalpark gefahren sind, kamen wir im Hotel an und erfuhren, dass du bereits für uns bezahlt hattest. In Jackson Hole und im Yosemite-Park hast du das auch getan.«
Ich legte den Kopf auf die Knie. »Das habe ich nur gemacht, weil ich mir gerne vorgestellt habe –« Ich hustete,
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