Blau wie Schokolade
erfahren.
»Hör mal zu, Jeannie Beanie«, sagte er seufzend. Ich stellte mir vor, wie er mit zwei Fingern die Locke blonden Haares zwirbelte, die ihm immer in die Stirn fiel. Frauen waren verrückt nach Charlie, aber er war so verliebt in Deidre, dass man ihm eine Frau nackt auf den Bauch binden konnte, ohne dass er es bemerken würde.
»Du bist ein Wunderkind. Ein Ass. Geradeheraus, wortgewandt, lustig, superklug. Dir hören die Leute zu, anstatt wie bei anderen einfach abzuschalten. Du weißt, wie man den Leuten etwas verkauft. Du weißt, wie man Mitarbeiter führt, wie man organisiert, recherchiert, verkauft, entwirft, wie so was gemacht wird.«
Ja, und am Ende eines harten Arbeitstags betrank ich mich besinnungslos in meinen eigenen vier Wänden.
»Also, Jeanne, hör zu! Ich brauche dich hier in Portland. Sofort. Wieso bist du überhaupt in Weltana gelandet?«
»Weil mir die Pfannkuchen hier geschmeckt haben.« Das stimmte. Da! Der kleine Frosch sprang zum nächsten Stein. Ich näherte mich ihm vorsichtig. Der Fluss plätscherte um meine Beine.
»Weil dir die Pfannkuchen geschmeckt haben!?« Ich wusste, dass mein Bruder jetzt die kleine Stelle zwischen seinen Augen rieb. Ich sah ihn vor mir, wie er in einem Hochhaus in Portland wütend aus dem Bürofenster schaute.
»Die sind superlecker. Unglaublich. Kannst du nicht herkommen und welche mit mir essen?«
»Nein, Jeanne,
nein
.« Er hob die Stimme. Jetzt zwirbelte er bestimmt wieder die Locke um den Finger. »Das kann ich nicht.«
Ich watete in die Mitte des Flusses und sah zu, wie eine Welle in die andere überging und sich brach. Da war der kleine Frosch. Ich stieg ihm nach.
Ich beschloss, Charlie die erschütternde Wahrheit zu sagen, damit er mich endlich in Ruhe ließ. »Ich möchte im Moment nicht arbeiten, Charlie.«
Leise fluchte er vor sich hin, doch ich hörte ihn trotzdem. »Red nicht so«, sagte ich mit etwas prüder Stimme.
»Jeanne, tu’s für mich. Ich mache mir Sorgen um dich. Und außerdem ist keiner von den Leuten bei Jay im Büro auch nur ansatzweise so qualifiziert wie du.«
»Charlie, so ein Wahlkampf ist ein Albtraum. Lieber schlage ich Rad und pikse mir dabei spitze Nadeln in den Hintern.«
»Außerdem,
außerdem
hast du dich schon immer für Politik interessiert – Lokalpolitik, Landespolitik, sogar internationale Politik. Du bist ein wandelndes Lexikon. Du hast einen Kopf wie ein Computer, aber im positiven Sinn. Los, komm, Jeanne –«
»Ich weiß nichts über die Politik in Oregon. Null. Ich weiß nicht mal, wie die Kandidaten aussehen. Ich kenne diesen Jay nicht, und er interessiert mich auch nicht.«
»Er ist ein umwerfender Mann. Er ist ehrlich. Er kennt sich aus, Jeanne, wirklich. Er ist innovativ. Er greift durch. In den Umfragen liegen wir Kopf an Kopf mit einem engstirnigen konservativen Senator. Bitte, Jeanne, die Bezahlung ist gut, und ich würde es als persönlichen Gefallen von dir betrachten.«
»Ich schulde dir keinen einzigen Gefallen«, sagte ich.
Wir mussten beide lachen.
Denn tatsächlich schuldete ich ihm so viele Gefallen, dass ich sie nicht mehr zählen konnte, und das wussten wir beide. Charlie hatte mir mehr als einmal das Leben gerettet. Wieder sah ich den Frosch hüpfen. Unglaublich, wie der springen konnte!
»Gut, Charlie, ich mache es. Ich mache einen Termin bei diesem Typ.«
Charlie seufzte erleichtert. »Gut. Wann?«
»Bald.«
»Wie bald ist das?«
»Bald, Bruderherz. Wie geht’s Deidre?« Der Fluss rauschte stärker. Kleine Wellen brachen sich an meinen Beinen.
Die Frage nach Deidre lenkte Charlie von unserem Gespräch ab. »Deidre? Der geht’s sehr gut.«
Deidre war ein sportlicher Typ. Sie schminkte sich nicht, was sie auch gar nicht nötig hatte, und sorgte dafür, dass ihre vier Kinder viel an der frischen Luft waren, weil »Gott ihre Haut schmutzfest gemacht hat, und selbst wenn sie sich in einer Pfütze suhlen, bekomme ich sie immer wieder sauber«. Sie hatte Computerspiele verboten. Die Kinder durften nur selten fernsehen. Deidre war unglaublich nett, belesen und gebildet und konnte sich über jedes beliebige Thema unterhalten. Hinter ihrem Frohsinn und ihrer guten Laune hatte sie eine liberale Grundhaltung und vertrat Frauenrechte mit Leidenschaft.
Ich war überzeugt, dass jeder sie mochte, der sie kennenlernte.
Aber ich konnte mich nicht erinnern, dass ich jemals nett zu Deidre gewesen wäre.
Ganz im Gegenteil, ich war immer kurz angebunden und oft unfreundlich und
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