Blau wie Schokolade
konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen.
Ich hatte das Arbeiterlager nicht vergessen. Meine Erinnerung war sehr lebendig und machte mir Bauchschmerzen. Ihr waren Klauen und Fangzähne gewachsen, mit denen sie sich in meiner zarten Haut verbissen hatte wie eine riesengroße Zecke.
Ich nehme an, es war mein soziales Gewissen, das Menschen nicht in diesen Hütten leben sehen wollte. Ich hatte eine Telefonnummer nach der anderen bei der Bezirksverwaltung ausprobiert, um mich über die Zustände im Lager zu beschweren. Nachdem ich mich durch die Mühlen der Bürokratie gekämpft hatte, gelangte ich endlich an die richtige Person, die meine Beschwerde entgegennahm.
Eine hilfsbereite Dame erklärte mir, der Betreiber, Dan Fakue, sei schon mehrmals wegen der miserablen Zustände in seinem Lager verklagt und zu einem Bußgeld verurteilt worden.
»Zu einem Bußgeld? Ist das alles? Musste er nicht für acht Jahre in den Knast oder, noch schlimmer, in den Hütten seiner Arbeiter wohnen?«
»Er musste eine Geldstrafe zahlen.«
»Das war offensichtlich nicht genug, sonst würde er sich jetzt anders verhalten.«
»Nein, die Geldstrafe war nicht sehr hoch.« Die Frau zog das letzte Wort in die Länge.
Ich erkundigte mich nach dem Betrag. Als sie ihn mir nannte, verdrehte ich die Augen. Fast wären sie mir herausgefallen. Dieser Unmensch musste sich nur ausrechnen, wie viel die Modernisierung des Lagers kosten würde, und dem die jährliche Geldstrafe gegenüberstellen. Die Antwort lag auf der Hand: Es war weitaus günstiger, die Strafe zu zahlen, als die Müllhalde auf Vordermann zu bringen.
»Haben Sie gehört, wie ich die Augen verdreht habe?«, fragte ich die Dame.
Sie seufzte. »Ja. Ich weiß, dass Sie frustriert sind. Tut mir leid, dass ich nicht mehr tun kann.«
Ich bat sie, mich mit ihrem Vorgesetzten zu verbinden, und ich darf sagen, sie war erleichtert, mich los zu sein. Dann sprach ich mit dem Vorgesetzten des Vorgesetzten und lief gegen die nächste Wand. Der Migrantenschreck habe seine Strafe bezahlt, und damit hätte es sich, auch wenn der Beamte, mit dem ich sprach, mir versicherte, dass man der Farm bald wieder einen Besuch abstatten würde.
Ich weiß wirklich nicht, wie wir in unserer demokratischen Gesellschaft zulassen können, dass Menschen so leben. Menschen, die Arbeiten erledigen, die ein normaler Amerikaner nicht eine Stunde lang ausführen würde, ohne sofort einen Anwalt zu rufen, sich über körperlich missbräuchliche Bedingungen zu beschweren und zehn Jahre Lohn und Schadenersatz in Millionenhöhe zu fordern.
Aber so war es.
Deshalb begann ich mir Gedanken zu machen, wie ich den Arbeiterfamilien helfen könnte. Ich wollte nicht, dass es nach Almosen aussah. Diese Menschen hatten ihren Stolz. Doch wären sie vielleicht bereit, ihren Stolz zu vergessen und meine Geschenke anzunehmen? Schließlich hatten sie Kinder zu versorgen.
Hätte die Mutter meiner Großmutter das für ihre Kinder getan?
Aus meinem kuscheligen Bett im Himmelszimmer schaute ich hinaus zum Fluss auf der Suche nach einer Antwort.
Nach einer Weile flüsterte der Fluss mir zu, was ich zu tun hatte.
Am nächsten Morgen zog ich meine Jeans, ein Sweatshirt und rosa Tennisschuhe an und machte mich auf den Weg zur Bäckerei. Die Vögel zwitscherten, der Fluss hatte Schaumkronen. Die Bäckerei befand sich auf der Main Street in einem roten Häuschen von der Größe einer Puppenstube. Die Inhaberin, Zelda Robinson, war mindestens achtzig Jahre alt und über eins achtzig groß. Sie bestand darauf, sich erst eine halbe Stunde mit mir zu unterhalten, ehe sie meine Bestellung aufnahm. Am Schluss waren wir die besten Freundinnen.
Ihr weißer Schopf hüpfte auf und nieder, als sie die Kuchen einpackte. »Brauchst du nächste Woche auch welche?« Durch ihre dicken Brillengläser spähte sie zu mir hoch.
»Ich weiß es noch nicht genau«, erwiderte ich und sah zu, wie sie zwei Apfelkuchen, zwei Brombeerkuchen, zwei Schokoladencremekuchen und zwei Kürbiskuchen einpackte. Ich hatte noch nie so leckere Kuchen gesehen.
»Schätzchen, ich mache die besten Kuchen in Weltana.« Ihre Stimme klang wie knisterndes Herbstlaub, doch war eine Spur von Stahl in jeder einzelnen Silbe. »Das weiß jeder. Ich mache Blaubeerkuchen, Zitronen-Baiser-Kuchen, Pekannusskuchen, Aprikosenkuchen, Pfirsichkuchen, Birnenkuchen, Fleischpasteten mit Möhren und Sellerie und außerdem Zeldas Shepherd Pies. Bei mir sind die Krusten leicht und locker. Ich
Weitere Kostenlose Bücher