Blaue Wunder
geflochtene Zöpfe und Kniestrümpfe trugen, die Glanzbilder auf dem Pausenhof tauschten, erröteten, wenn eine Lehrerin sie direkt ansprach, und sich ihre Poesiealben untereinander ausliehen, in die sie dann reinschrieben:
«Sei wie das Veilchen im Moose, sittsam,
bescheiden und rein,
und nicht wie die stolze Rose,
die immer bewundert will sein.»
Ein einziges Mal war auch mir ein Poesiealbum ausgehändigt worden. «Könntest du mir übers Wochenende was reinschreiben?», bat mich schüchtern Monika Gassmann aus der Parallelklasse. Ich fühlte mich wahnsinnig geehrt, gab mir entsprechend Mühe und malte auf mehreren Doppelseiten das, was mich gerade am meisten beschäftigte. Was da wohl etwas unglückselig zusammentraf, war meine mangelnde zeichnerische Begabung und mein damaliges Interesse für Asseln, Milben, Zecken - nun, Ungeziefer im Allgemeinen eben. Ich besaß etliche Bildbände, die mir als Zeichenvorlage dienten.
Danach hat mir niemals wieder jemand sein Poesiealbum gegeben, und ich beschloss, Mädchen doof zu finden. Und jetzt bin ich selbst ein Mädchen mit Tagebuch. Martin hat es mir gleich bei unserer zweiten Verabredung geschenkt. «Damit du die unvergessliche Zeit, die du hoffentlich vor dir hast, auch wirklich nie vergisst.» Ich hatte versucht, ihn irgendwie viel sagend anzuschauen, und mich gleichzeitig gefragt, worauf er wohl anspielte. Würde die nächste Zeit unvergesslich werden, weil ich gerade zum ersten Mal in meinem Leben in eine Großstadt gezogen war? Oder weil Martin und ich sie zusammen verbringen würden? Weil wir als Paar glücklich bis ans Ende unserer Tage sein würden?
Man erkennt hier deutlich, dass mich der gesunde Menschenverstand bereits vor dem ersten Kuss verlassen hatte. In jedem Fall erschien mir Martins Geschenk als deutlicher Hinweis auf seine ebenfalls in Wallung geratenen Emotionen. Ich nahm es dankbar an und verdrängte meine uralte Antipathie gegen Tagebücher sofort und vollständig. Ich hätte mit Martin Glanzbilder getauscht, wenn er es von mir verlangt hätte.
Es hat mich voll erwischt. Und das, obwohl ich ausnahmsweise mal nicht auf der Suche gewesen bin und mir glaubhaft eingeredet habe, dass ich noch nicht wieder bereit sei für eine neue feste Beziehung. Das jedenfalls hatte ich vor nicht allzu langer Zeit dem letzten Mann zu verstehen gegeben, von dem ich mich nach einer unerquicklichen Kurzbeziehung getrennt hatte.
Aber jetzt mal ganz ehrlich, wer glaubt eigentlich den Quatsch von wegen «Ich bin noch nicht bereit für eine neue feste Beziehung»? Der erste Kerl, der mich mit diesem Satz abserviert hat, war siebzehn und hatte meines Wissens nach vorher noch nie eine Beziehung gehabt. Der zweite, der mir mit dieser fadenscheinigen Begründung ankam, war erstaunlicherweise achtundvierzig Stunden später von seinen Bedenken geheilt und ließ sich auf eine sehr neue und sehr feste Beziehung mit Melanie K. ein.
Warum sind Männer in dieser Hinsicht nicht ehrlich? Warum sagen sie uns nicht, was sie wirklich stört? Warum sagen sie: «Es liegt nicht an dir», wenn sie in Wahrheit denken: «Deine gnubbeligen Knie kann ich nicht ansehen, ohne an den deformierten Schädel des Elefantenmenschen zu denken!» Na gut, vielleicht muss man es nicht ganz so roh ausdrücken und es schonender formulieren. Man könnte zum Beispiel sagen: «Ich bin einfach noch nicht bereit für eine neue feste Beziehung.»
Im Prinzip ist es natürlich trotzdem unfair, wenn dir nie jemand die Wahrheit sagt und dich dadurch der Möglichkeit beraubt, dich zu verändern. Oder zumindest über eine Veränderung nachzudenken. Ständig erklären einem die Männer, es läge nicht an einem. Du wunderst dich dein Leben lang, warum einer nach dem anderen Reißaus nimmt, und auf dem Sterbebett beichtet dir der Geistliche, dass du echt immer ganz fiesen Mundgeruch hattest. Nur mal jetzt so als krasses Beispiel, um deutlich zu machen, was ich meine.
Ach, wie ist das herrlich, über blöde, gemeine, unehrliche Männer nachzudenken, die einem das Leben schwer machen entweder durch ihre Anwesenheit oder aber, nicht weniger quälend, durch ihre Abwesenheit. Jetzt, wo ich keine Probleme mehr habe, liebe ich es, über die Probleme nachzudenken, die ich mal hatte. Das ist wie zu groß gewordene Hosen anprobieren: ein erhebendes Gefühl.
Wobei, ich will meinem bisherigen Leben gegenüber nicht ungerecht sein. Es ist nicht so, als hätte ich immer nur Pech gehabt. Zum Beispiel meine Beziehung mit
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