Blaue Wunder
lauschte den beiden so gespannt wie einem Kriminalhörspiel, bei dem du nicht weißt, wer als Nächstes umgebracht wird. Mehrere Minuten hörte ich nur lautes Schluchzen, begleitet von beschwichtigendem Gebrummel. Ich war wirklich in Gefahr abzustürzen, so weit wie ich mich über das Geländer beugte. Dann wurden die Stimmen wieder lauter. «Und da ist wirklich niemand auf der Dachterrasse?» «Stumpi, was für ein Unsinn, natürlich ist da niemand.»
«Was meinst du, soll ich heute Nacht hier bleiben?» Ich sah mich auf der Terrasse übernachten. Hatte er sie tatsächlich «Stumpi» genannt? Meine Güte, die beiden mussten sich wirklich schon länger kennen. In was war ich da nur reingeraten? Bis vor drei Wochen war ich noch eine durchschnittlich unglückliche Single-Frau aus Hiltrup im Münsterland, und jetzt war ich eine überdurchschnittlich unglückliche Frau auf einer Dachterrasse in Hamburg, deren Freund sich gerade ein Stockwerk tiefer mit seiner Verlobten zankte.
Bei billigen Komödien im Fernsehen habe ich mich oft gefragt, wie sich eigentlich derjenige fühlt, der sich im Schrank verstecken muss. Was geht in dem armen Deppen vor, der verheimlicht wird? Und wer war eigentlich in diesem Schauspiel die Betrogenere? Astrid, die nicht weiß, dass sie betrogen wird? Die nicht weiß, dass Elisabeth Dückers, 32, Reisebürokauffrau und frisch und sehr verliebt in Martin G. Gülpen, 42, Juniorchef eines Hamburger Sanitärgroßhandels, auf der Dachterrasse überm Geländer hängt und jedes Wort hören kann? Oder war Elli Dückers die Doofe, die versteckt wird von ihrem Geliebten, von dem sie nicht wusste, dass er verlobt ist? Die von einem Happy End träumte, während eine andere bereits an der Gravur für den Ehering feilte?
Nun, wie ich die Sache auch drehte und wendete, es fiel mir zunehmend schwer, mich als eindeutige Siegerin zu fühlen. Es gab nur eine Chance, das Ruder rumzureißen und noch dazu einen schweren grippalen Infekt zu vermeiden: Ich musste da sofort runtergehen, noch viel mehr und viel wertvollere Sachen kaputtmachen als die scheppernde Astrid, genannt Stumpi. Dann etwas total Cooles sagen und anschließend würdevoll und ohne einen Blick zurück die Szenerie verlassen.
«Großartig! Und hast du das auch gemacht?»
Ich zucke zusammen. Ich habe Erdal ganz vergessen. Er hat bereits die zweite Tüte Nervennahrung geöffnet, Chio Chips nach texani- scher Art. Für alle Fälle hält er bereits sein Asthmaspray bereit.
«Ob ich das gemacht habe? Natürlich nicht. Ich bin nicht geschaffen für große Auftritte. Die imposanteste Szene, die ich je jemandem gemacht habe, war, als ich meiner Schwester vorsichtig vorschlug, sie möge endlich aufhören, meine Zahnbürste zu benutzen, um ihre von Tusche verklebten Wimpern auseinander zu kriegen.»
Erdal erbleicht. Er ist etwas eigen mit allem, was mit Hygiene zu tun hat, insbesondere mit Hygiene im Nassbereich. Erdal ist meines Wissens nach die einzige Privatperson mit einem sich selbst nach jedem Toilettengang desinfizierenden Klo.
Er sieht lustig aus, denke ich, als ob es in diesem Moment nichts Wichtigeres zu denken gäbe.
Ich hatte mir Erdal Küppers noch nie richtig angeschaut. Schließlich war er schwul und ich bis gerade eben so schwer wie frisch verliebt. Erdal sieht mit seinem schwarzen Haar und dem ständigen Bartschatten total türkisch aus. Er ist nicht groß, dafür aber sehr breit und, nun ja, ein wenig beleibt, was die Körpermitte angeht. Würde ich ihn nicht kennen, würde er mir wahrscheinlich Angst einjagen, allerdings nur so lange, bis ich seine Stimme gehört hätte. Erdal hat die totale Kinderstimme, hoch und zart und dünn, ein geradezu absurder Kontrast zu seinem Aussehen. Als er zum ersten Mal was zu mir sagte, dachte ich, er will mich auf den Arm nehmen. Ich bin heute noch froh, dass ich ihn nicht gebeten habe, endlich mit dem
Quatsch aufzuhören und normal mit mir zu sprechen. Wahrscheinlich hätte ich das Zimmer dann nicht bekommen, weil Erdal so empfindlich und schnell beleidigt ist. Man glaubt, den Kerl könne nichts umhauen, aber ich weiß, dass er sich vor Kummer betrunken hat, als sich die «No Angels» trennten.
Ich mag ihn, denke ich. Er könnte eine gute Freundin werden. Er schaut mich an wie einen Thriller, der gerade in die blutigste Phase kommt.
«Nein», sage ich kleinlaut, «ich habe keine Szene gemacht. Ich habe still und verzweifelt abgewartet, bis Astrid endlich abgehauen ist.»
«Oh.»
Erdal versucht,
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