Blauer Montag
Brüste und knochigen Schlüsselbeine deutlich abzeichneten. Frieda ging durch den Kopf, dass dieses arme, halb verhungert wirkende Gör doch schrecklich frieren musste. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie hinübergehen und den kichernden Teenagern mit ihrem Schirm eine überziehen sollte, verkniff es sich dann aber. Sie hatte an diesem Tag schon genug Unheil angerichtet.
Ruckelnd kam der Zug zum Stehen. Sie waren mittlerweile schon am nächsten Bahnhof angekommen. Als Frieda aus dem Fenster schaute, stellte sie fest, dass es inzwischen wieder schneite: Unglaublich große Flocken segelten am Fenster vorbei. Sie kniff die Augen zusammen: War der große Vogel, der dort drüben am Ufer so still und elegant zwischen den Dornbüschen stand, tatsächlich ein Reiher? Sie starrte wieder auf das Handy, als könnte sie es durch ihre bloße Willenskraft zum Läuten bringen. Als das nicht klappte, rief sie noch einmal bei der Polizei an, hörte am anderen Ende dieselbe Stimme, fragte ein weiteres Mal nach Karlsson und bekam erneut – in einem Ton, der vor lauter Höflichkeit ganz steif klang – die Auskunft, er könne ihren Anruf noch immer nicht entgegennehmen.
»Wer war die?«
Obwohl er sie das in ruhigem Ton fragte, wich sie vor ihm zurück.
»Ich weiß es nicht. Sie hat einfach an der Tür geklingelt.«
Dean nahm sie sanft am Kinn und hielt ihren Kopf so, dass sie ihm direkt in die Augen sah. »Was wollte sie?«
»Ich habe nur die Tür aufgemacht. Sie hat sich an mir vorbeigedrängt. Ich wusste nicht, wie ich sie aufhalten sollte. Sie hat sich als Ärztin ausgegeben.«
»Hat sie dir ihren Namen genannt?«
»Nein. Doch. Es war kein ganz gewöhnlicher Name.« Sie leckte über ihre violetten Lippen. »Frieda und irgendein kurzer Nachname. Ich weiß nicht mehr …«
»Es wäre besser, du würdest dich erinnern.«
»Klein. Ja, genau. Frieda Klein.«
Er ließ ihr Kinn wieder los. »Dr. Frieda Klein. Und sie hat mich Alan genannt …« Er lächelte seine Frau an und tätschelte ihr leicht die Schulter. »Warte auf mich. Rühr dich nicht von der Stelle.«
Der Zug ruckte einmal heftig und blieb dann mit quietschenden Bremsen stehen. Frieda beobachtete, wie das Mädchen noch mehr von dem Cider trank. Einer von den Jungs griff der Kleinen unter den Rock, woraufhin sie laut kicherte. Ihre Augen wirkten glasig. Ruckelnd setzte der Zug sich wieder in Bewegung. Frieda holte ihr Adressbuch aus der Tasche und blätterte es durch, bis sie auf den gewünschten Namen stieß. Sie überlegte einen Moment, ob sie die junge Frau noch einmal um ihr Handy bitten sollte, entschied sich jedoch dagegen. Als der Zug schließlich durch den langsam fallenden Schnee in den nächsten Bahnhof einfuhr und ächzend zum Stehen kam, stieg sie aus und steuerte schnurstracks auf die Telefonzelle neben dem Ausgang zu. Wie sich herausstellte, nahm das Ding keine Münzen an. Frieda musste ihre Kreditkarte einschieben, bevor sie wählen konnte.
»Dick? Hier ist Frieda. Frieda Klein.«
»Dick« war Richard Lacey, seines Zeichens Professor für Neurologie an der Universität von Birmingham. Sie hatte ihn vier Jahre zuvor auf einer Konferenz kennengelernt. Er hatte sie ein paarmal eingeladen, mit ihm auszugehen, aber sie hatte immer unter irgendeinem Vorwand abgelehnt. Trotzdem waren sie locker in Kontakt geblieben. Er war genau der Mann, den sie jetzt brauchte.
Ein Mann mit guten Verbindungen, der Gott und die Welt kannte.
»Frieda? Du hast lange nichts von dir hören lassen! Wo bist du denn abgeblieben?«
»Ich brauche einen Namen«, antwortete Frieda.
28
F rieda hatte für diesen Vormittag sämtliche Patiententermine abgesagt, kam aber rechtzeitig zurück, um ihre Nachmittagssitzungen wahrnehmen zu können, einschließlich der mit Alan. Während sie zu ihrer Praxis marschierte, hatte sie das Gefühl, immer noch nach Dean Reeves Haus zu riechen: nach kaltem Rauch und Katzenscheiße. Die Dämmerung brach bereits herein. Nur noch drei Tage bis zum kürzesten Tag des Jahres. Aus dem Schneefall des Vormittags war mittlerweile ein Schneeregen geworden, der auf der Straße zu matschigen Rinnsalen schmolz. Frieda hatte in ihren Stiefeln feuchte Füße, und ihre Haut fühlte sich wund an. Sie sehnte sich nach ihrem Haus, ihrem Sessel am Kaminfeuer.
Alan war der Letzte ihrer Patienten. Sie hatte sich vor dem Wiedersehen mit ihm gefürchtet, ihm mit fast körperlichem Widerwillen entgegengeblickt und musste sich noch einmal wappnen, als er
Weitere Kostenlose Bücher