Blauer Montag
er wieder diesen scheußlichen Geschmack im Mund, der nie ganz wegging. Schwankend rappelte er sich auf, nahm seine ganze Kraft zusammen und sprang auf und ab, auf und ab, immer wieder, bis sich um ihn herum alles zu drehen begann und die Wände auf ihn zukamen und er zurück auf den Boden fiel. Er schlug mit dem Kopf gegen die Holzdielen. So laut, dass sie ihn bestimmt hörte. Sie musste ihn einfach hören.
Die Stimme klang ebenfalls gleich. Ein bisschen selbstsicherer, aber ansonsten genau gleich.
»Tut mir leid«, stammelte Frieda, »mein Fehler.« Sie hielt die Zigarette hoch. »Vielen Dank. Ich finde selbst hinaus. Entschuldigen Sie die Störung.« Sie drehte sich um und versuchte, einen möglichst gelassenen Eindruck zu machen, während sie in die Diele trat und an der Haustür herumfummelte. Es gelang ihr nicht auf Anhieb, sie zu öffnen, aber dann fand sie doch den richtigen Griff und trat ins Freie, wo sie die Zigarette auf den Boden warf und sich dann langsam in Bewegung setzte. Sobald sie um die Ecke gebogen war, begann sie zu rennen. Sie rannte den ganzen Weg bis zum Bahnhof, obwohl ihr die Brust wehtat und sie kaum noch Luft bekam und bereits den Geschmack von Galle im Mund hatte. Ihr schien, als liefe sie durch einen dicken Nebel, der all die vertrauten Schilder verhüllte und die Welt in einen unheimlichen, irrealen Ort verwandelte.
Er sah sie gehen. Erst langsam, dann immer schneller. Dann fing sie zu tanzen an. Sie war entkommen und würde nie zurückkehren, weil er sie gerettet hatte.
Hinter ihm ging die Tür auf.
»Da war aber jemand ein sehr unartiger Junge, hmm?«
Als sie endlich wohlbehalten im Zug saß, wünschte sie zum ersten Mal in ihrem Leben, sie besäße ein Handy. Sie blickte sich um. Ein paar Plätze weiter entdeckte sie eine junge Frau, die einigermaßen harmlos aussah. Frieda ging zu ihr.
»Entschuldigen Sie.« Sie bemühte sich um einen nüchternen Ton, als hätte sie ein ganz gewöhnliches Anliegen. »Dürfte ich mir bitte ganz kurz Ihr Handy ausleihen?«
»Was?«
»Dürfte ich mir ganz kurz Ihr Handy ausleihen?«
»Sie haben Sie wohl nicht mehr alle!«
Frieda zog ihren Geldbeutel aus der Tasche. »Ich gebe Ihnen auch etwas dafür«, erklärte sie. »Einen Fünfer?«
»Einen Zehner.«
»Also gut, einen Zehner.«
Sie gab der Frau das Geld und bekam dafür deren Handy überreicht. Es handelte sich um ein sehr kleines und schmales Exemplar. Frieda brauchte mehrere Minuten, bis sie begriffen hatte, wie man damit einen einfachen Anruf tätigte. Ihre Hände zitterten immer noch.
»Hallo! Hallo! Bitte verbinden Sie mich mit Detective Inspector Karlsson.«
»Mit wem spreche ich?«
»Hier ist Dr. Klein. Frieda.«
»Bitte warten Sie einen Moment.«
Frieda wartete. Ihr Blick schweifte zum Fenster hinaus, wo eine Häuserruine nach der anderen vorüberzog.
»Dr. Klein?«
»Ja.«
»Ich fürchte, er ist gerade beschäftigt.«
Frieda musste daran denken, wie wütend er bei ihrem letzten Treffen gewesen war. »Es ist dringend«, erklärte sie, »ich habe eine sehr wichtige Information für ihn.«
»Tut mir leid.«
»Ich muss sofort mit ihm sprechen. Auf der Stelle.«
»Das geht leider nicht. Soll ich Sie mit jemand anderem verbinden ?«
»Nein!«
»Möchten Sie, dass ich ihm etwas von Ihnen ausrichte?«
»Ja. Sagen Sie ihm, dass er mich schleunigst zurückrufen soll. Ich telefoniere von einem fremden Handy aus. Oje, ich weiß die Nummer nicht.«
»Die sehe ich auf meinem Display«, sagte die Stimme am anderen Ende.
»Ich erwarte seinen Rückruf.«
Sie behielt das Telefon in der Hand, in der Hoffnung, es möge jeden Moment klingeln. Der Zug hielt an, und eine Gruppe schmuddliger, pickeliger Teenager stieg zu. Abgesehen von einem
mageren Mädchen, das unter seinem grob aufgetragenen Make-up aussah wie dreizehn, waren es lauter Jungs. Alle trugen ihre Jeans bis unter die Pobacken hängend. Frieda beobachtete, wie einer der Jungs dem Mädchen eine Dose mit weißem Cider an die Lippen hielt und ihr etwas davon einzuflößen versuchte. Obwohl sie den Kopf schüttelte, ließ er nicht locker, bis sie schließlich doch den Mund aufmachte und ihn einen Schluck hineinschütten ließ. Ein wenig ging daneben und rann an ihrem spitzen Kinn hinunter. Sie hatte den Reißverschluss ihres fellgefütterten Parkas geöffnet, sodass Frieda sehen konnte, dass sie darunter nur ein dünnes, vermutlich rückenfreies Oberteil mit Nackenverschluss trug, unter dem sich ihre flachen
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