Blauer Montag
Regeln gebrochen, dass es darauf nun auch nicht mehr ankam.
Sie schob den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum.
»Fünf Minuten«, sagte sie.
Er betrachtete seine Hand. Die Finger hatten sich in dürre Zweige verwandelt. Niemand würde ihn nun noch essen wollen. Auch seine schmutzigen nackten Füße waren keine Füße mehr, sondern Wurzeln, die langsam in die Erde krochen. Bald würde er sich nicht mehr bewegen können, da war er sich ganz sicher.
Aber sie rissen ihn hoch und wickelten ihn ein. Er spürte, wie seine Zweige knackten und seine Wurzeln in einen Sack gesteckt wurden. Dann stopften sie ihm den Mund mit Erde voll und versenkten ihn in neuer Dunkelheit. Das kleine Schwein musste zum Markt. Wer würde eine Goldmünze für ihn zahlen? Er wurde gepackt und hochgehoben, woraufhin er noch tiefer in den Sack sank und die Stimmen keuchten und grobe Worte sagten. Die Hexe rief, dass Simon sagte, Simon sagte,
aber Simon sagte gar nichts, denn sein Mund war verschlossen, und er hatte keine Stimme mehr.
Holterdipolter, holterdipolter. Dann lag er plötzlich auf etwas Hartem, und über ihm knallte etwas. Die Dunkelheit wurde noch dunkler, und es gab einen neuen Geruch, ölig und tief. Er hörte ein lautes Husten, ein Prusten und dann ein Summen, das klang wie das Geräusch, das die Hexenkatze machte, wenn sie ihm die Krallen in seine wunde Haut schlug, nur lauter. Sein Körper prallte auf und ab. Mehrere Male schlug sein Kopf gegen den harten Untergrund.
Dann lag er wieder ganz still. Er hörte ein Klicken und spürte, wie grobe Finger durch den Sack nach ihm tasteten – auf der Suche nach seiner Schulter, seinem weichen Oberschenkel. Er wusste, dass sein Körper sich auflöste, denn er spürte, wie der Schmerz durch ihn strömte wie ein Fluss und dabei in jede Ritze von ihm drang. Das Wort für »warum?« hatte er vergessen, und auch an das Wort für »bitte« konnte er sich nicht mehr erinnern. Es war nichts mehr übrig. Kein Matthew. Holterdipolter über den Boden. Kalt. So kalt. Kalt wie Feuer. Etwas klapperte und ruckte, dann keuchten die Stimmen wieder, und plötzlich wurde er aus dem Sack gezogen.
Zwei Gesichter in der Finsternis. Münder, die sich öffneten und schlossen. Simon sagte, aber er konnte nicht sprechen. Sie schoben ihn in ein Loch. War das ein Ofen? Obwohl seine Finger inzwischen Zweige waren, Eiszapfen, viel zu scharfkantig, um gegessen zu werden? Aber es konnte gar kein Ofen sein, denn da war keine Hitze, sondern nur eine pochende, kalte Dunkelheit. Sein Mund wurde freigelegt, und er öffnete ihn, aber es kam nichts heraus. Nur Atem.
»Einen einzigen Laut, und du wirst in kleine Stücke geschnitten und an die Vögel verfüttert«, verkündete die Stimme des Hexenmeisters. »Hörst du?«
Hörte er? Nun hörte er jedenfalls nichts mehr, außer dem Geräusch eines Steins, der über den Boden geschleift wurde.
Dann war schwarze Nacht, kalte Nacht, stille Nacht und verlorene Nacht, und nur sein Herz sagte noch etwas. Wie eine Trommel unter seiner trockenen Haut. Ich-bin, ich-bin, ich-bin.
29
I ch habe gestern mit Alan gesprochen«, bemerkte Frieda.
Es war so ziemlich das Erste, was sie sagte. Seit Josef sie mit seinem Lieferwagen abgeholt hatte, erzählte er ihr von Reuben, seiner Arbeit und seiner Familie. Als Frieda sich nun zu Wort meldete, klang es fast, als spräche sie zu sich selbst.
»Deswegen kommt er doch zu Ihnen, oder nicht?«
»Er stand plötzlich vor meiner Haustür. Irgendwie hat er herausgefunden, wo ich wohne, und ist einfach bei mir zu Hause aufgetaucht. Natürlich hatte ich zu ihm gesagt, wenn es ihm schlecht gehe, könne er sich jederzeit bei mir melden, aber dabei dachte ich an einen Anruf und nicht an einen Überraschungsbesuch. Ich empfinde so etwas als eine Verletzung der Privatsphäre. Unter normalen Umständen hätte ich ihn gleich wieder weggeschickt. Vielleicht hätte ich sogar die Therapie mit ihm abgebrochen und ihn an jemand anderen überwiesen.«
Josef gab ihr keine Antwort. Er wechselte mit seinem Lieferwagen gerade mehrere Fahrbahnen hintereinander. »Wir nehmen die Autobahn, oder?«
»Ja.« Instinktiv riss Frieda die Hände vors Gesicht, als er in eine Lücke zwischen zwei Lastwagen einscherte.
»Keine Angst«, beruhigte er sie.
Frieda blickte sich um. Sie hatten bereits eine recht ländlich anmutende Gegend erreicht: winterliche, frostbedeckte Felder, auf denen hin und wieder ein paar einzelne Bäume standen.
»Eine Verletzung der
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