Blauer Montag
an deren Außenseite ein kleiner Spion angebracht war, »dass sie Ihnen nicht viel erzählen wird.« Sie bedachte die beiden Besucher mit ihrem nach unten gezogenen Lächeln.
Sie betraten einen kleinen, rechteckigen Raum. Die Luft war drückend und roch nach Desinfektionsmitteln. Vor dem Fenster befand sich ein Gitter. Das Zimmer wirkte leer. Lief ein Leben am Ende darauf hinaus? Ein schmales Bett, ein Bild von der Seufzerbrücke an der Wand, ein kleines Bücherregal, in dem eine ledergebundene Bibel stand, ein Hündchen aus Porzellan, eine Vase ohne Blumen und ein großes, silbergerahmtes Foto
von dem Sohn, den sie behalten hatte. In einem Sessel neben dem Schrank saß eine stämmige Gestalt, bekleidet mit einem Hauskleid aus Flanell und dicken braunen Stützstrümpfen.
June Reeve war so klein, dass ihre Füße im Sitzen kaum den Boden berührten, und ihr Haar war zum gleichen Grauton verblasst wie das von Alan und Dean. Als sie ihnen den Kopf zuwandte, konnte Frieda zunächst keine Ähnlichkeit mit dem Foto erkennen. Ihr Gesicht war breiter geworden und schien dabei seine ursprüngliche Form verloren zu haben. Übrig geblieben waren nur noch ein paar in Fleisch gebettete Gesichtszüge: ein ehemals markantes Kinn, ein kleiner Mund mit trockenen Lippen und trüb gewordene braune Augen, die trotzdem noch an die ihrer Söhne erinnerten. Es war schwer zu sagen, wie alt sie war. Siebzig? Hundert?
»Besuch für Sie«, verkündete Daisy laut.
»Was hat sie mit ihren Händen gemacht?«, fragte Karlsson.
»Sie kaut an ihren Fingern herum, bis sie bluten, deswegen haben wir ihr diese Mullfäustlinge verpasst.«
»Hallo, Mrs. Reeve«, sagte Frieda.
June Reeve gab ihr keine Antwort, reagierte aber mit einer seltsamen, ruckartigen Bewegung ihrer Schultern. Sie taten ein paar Schritte in den Raum hinein, der für vier Personen kaum groß genug war.
»Ich lasse Sie dann mal allein«, meinte Daisy.
»Mrs. Reeve?«, wandte Karlsson sich an sie. Dabei schnitt er eine Grimasse und zog den Mund in die Breite, als könnte eine möglichst klare Aussprache den Sinn seiner Worte verdeutlichen. »Mein Name ist Malcolm Karlsson, und das hier ist Frieda.«
Der Kopf von June Reeve fuhr herum. Sie richtete ihren glasigen Blick auf Frieda.
»Sie sind Deans Mutter.« Frieda ging neben ihr in die Knie. »Dean? Erinnern Sie sich an Dean?«
»Wer will das wissen?« Ihre Stimme klang undeutlich und
heiser, als wären ihre Stimmbänder beschädigt. »Ich mag keine neugierigen Wichtigtuer.«
Frieda betrachtete ihr Gesicht und versuchte aus den Falten und Furchen eine Geschichte herauszulesen. War dieses Gesicht vor zweiundzwanzig Jahren am Schauplatz von Joannas Entführung gewesen?
June Reeve rieb ihre behandschuhten Hände aneinander. »Ich mag meinen Tee stark, mit viel Zucker.«
»Ein hoffnungsloser Fall«, meinte Karlsson.
Frieda beugte sich so weit vor, dass ihr der säuerliche Geruch der alten Frau in die Nase stieg. »Erzählen Sie mir von Joanna«, sagte sie.
»Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram.«
»Joanna. Das kleine Mädchen.«
June Reeve gab ihr keine Antwort.
»Haben Sie sie entführt?«, fragte Karlsson in grobem Ton. »Sie und Ihr Sohn? Erzählen Sie uns davon.«
»So wird das nichts«, ermahnte ihn Frieda. Mit sanfter Stimme sagte sie: »Es war vor dem Süßwarenladen, stimmt’s?«
»Warum bin ich hier?«, fragte die alte Frau. »Ich möchte nach Hause.«
»Haben Sie ihr Süßigkeiten gegeben?«
»Zitronenbrause«, antwortete sie, »Gummibärchen.«
»Die haben Sie ihr gegeben?«
»Wer will das wissen?«
»Und dann haben Sie sie in einen Wagen gesetzt«, fuhr Frieda fort. »Zu Dean.«
»Warst du ein unartiges Mädchen?« Ein fast schon obszönes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht der alten Frau aus. »Hast dir wohl in die Hosen gemacht, was? Und dann auch noch beißen. Wie unartig von dir.«
»War Joanna unartig?«, hakte Frieda nach. »Erzählen Sie uns von Joanna, June.«
»Ich möchte meinen Tee.«
»Hat sie Dean gebissen?« Sie schwieg einen Moment, ehe sie hinzufügte: »Hat er sie getötet?«
»Wo bleibt mein Tee? Mit drei Stück Zucker!« Sie verzog das Gesicht, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
»Wohin haben Sie Joanna gebracht? Wo liegt sie begraben?«
»Warum bin ich hier?«
»Hat er sie gleich getötet, oder habt ihr sie erst irgendwo versteckt?«
»Ich habe ihn in ein Handtuch gewickelt«, erklärte die alte Frau in kampflustigem Ton. »Bestimmt hat ihn jemand
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