Blauer Montag
gefunden und mitgenommen. Woher nehmen Sie das Recht, über mich zu urteilen?«
»Sie spricht von Alan«, wandte Frieda sich leise an Karlsson. »Er wurde in einem kleinen Park nahe einer Wohnsiedlung gefunden. Eingehüllt in ein Handtuch.«
»Wer sind Sie überhaupt? Ich habe Sie nicht hereingebeten. Jeder soll sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.«
»Wo ist die Leiche?«
»Ich will meinen Tee. Ich will meinen Tee!« Sie wurde so laut, dass ihre Stimme kippte. »Tee!«
»Lassen Sie uns von Ihrem Sohn Dean sprechen.«
»Nein.«
»Dean hat Joanna irgendwo versteckt.«
»Von mir erfahrt ihr gar nichts. Er wird sich um mich kümmern. Ihr seid doch nur sensationsgeile Zeitungsfritzen! Neugierige Schnüffelnasen! Rotzarrogante Weicheier!«
»Sie ist schon ganz durcheinander.« Daisy war hinter ihnen in der Tür aufgetaucht. »Nun werden Sie nichts mehr aus ihr herausbekommen.«
»Sie haben recht.« Frieda erhob sich. »Wir lassen sie besser in Ruhe.«
Sie gingen mit Daisy auf den Gang hinaus. »Hat sie je etwas über ein Mädchen namens Joanna gesagt?«, fragte Karlsson sie.
»Sie ist ziemlich verschlossen«, antwortete Daisy. »Die meiste Zeit bleibt sie in ihrem Zimmer. Sie redet grundsätzlich nicht viel, außer, um sich zu beschweren.« Sie verzog das Gesicht. »Darin ist sie ziemlich gut.«
»Hatten Sie jemals das Gefühl, dass sie wegen irgendetwas Schuldgefühle plagen?«
»Die? Die ist höchstens mal wütend. Oder entrüstet.«
»Worüber denn?«
»Sie haben es doch gerade gehört. Über Leute, die sich in ihre Angelegenheiten einmischen.«
Während sie in Richtung Ausgang liefen, sagte Karlsson kein Wort.
»Und?«, fragte Frieda schließlich.
»Was, und?« Karlsson klang verbittert. »Erst habe ich es mit einer Frau zu tun, die ein Gesicht zu rekonstruieren versucht, an das sie sich vorher zweiundzwanzig Jahre lang nicht erinnern konnte. Dann schlage ich mich mit einem eineiigen Zwilling herum, dem beunruhigende Träume und Fantasien im Kopf herumspuken, und zu guter Letzt befrage ich jetzt auch noch eine Frau, die unter Alzheimer leidet und von Zitronenbrause faselt.«
»Sie hat durchaus ein paar interessante Dinge von sich gegeben. Auch wenn es nur Bruchstücke waren.«
Karlsson verpasste der Tür einen solchen Stoß, dass sie laut gegen die Wand knallte.
»Bruchstücke. O ja! Nichts als Unsinn, schattenhafte Erinnerungen, eigenartige Zufälle, seltsame Gefühle, unausgegorene Eingebungen. Darauf läuft dieser ganze gottverdammte Fall doch letztendlich hinaus. Womöglich versaue ich mir damit meine ganze Karriere, genau wie der Detective vor zweiundzwanzig Jahren im Fall von Joanna.«
Sie traten in die Kälte und erstarrten.
»Morgen!«, grüßte Dean Reeve. Er war frisch rasiert und trug das Haar aus dem Gesicht gekämmt. Sein freundliches Lächeln hatte etwas Provozierendes.
Frieda brachte kein Wort heraus. Karlsson nickte verhalten.
»Wie geht es meiner Ma denn heute?« Er hielt eine braune Papiertüte hoch, die ein paar Fettflecken zierten. »Ich bringe ihr einen Doughnut. Sonntags isst sie immer gerne einen Doughnut. Ihr Appetit ist das Einzige, was sie nicht verloren hat.«
»Auf Wiedersehen«, sagte Karlsson mit heiserer Stimme.
»Ich bin mir sicher, dass wir uns bald wiedersehen werden«, gab Dean freundlich zurück. »So oder so.«
Als er an ihnen vorbeiging, zwinkerte er Frieda von der Seite zu.
33
O bwohl es schon kurz nach zehn war, saß Frieda noch allein in ihrem Sprechzimmer. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Alan kam zu spät. War das ein Wunder? Was hatte sie eigentlich erwartet? Dass er nach allem, was er über sich selbst und Friedas verräterisches Verhalten erfahren hatte, trotzdem weiter zu ihr kommen würde? Sein erster Therapeut hatte ihm nicht zugehört, und nun, bei seinem zweiten Versuch, war er von ihr, Frieda, so schnöde getäuscht und verraten worden. Wie würde er darauf reagieren?
Vielleicht würde er ja die ganze Therapie abbrechen. Das wäre eine logische Konsequenz. Natürlich bestand auch die Möglichkeit, dass er sich beschwerte. Zum zweiten Mal. Wobei es dieses Mal schlimme Folgen haben konnte. Frieda dachte kurz darüber nach, doch es fiel ihr schwer, darin eine ernste Gefahr zu sehen. Sollte es tatsächlich dazu kommen, würde sie sich zum gegebenen Zeitpunkt damit auseinandersetzen. Im Moment machte ihr viel mehr zu schaffen, dass sie sich irgendwie fehl am Platz fühlte, als wäre sie zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie
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