Blaufeuer
ein Mensch, der polarisierte. Wer ihnkannte, mochte ihn. Er kam sogar mit denjenigen gut zurecht, die ihm seine Beliebtheit neideten. Er hatte diese entwaffnende Art, niemals Bedürftigkeit auszustrahlen, denn er machte sich nicht abhängig von der Zustimmung anderer. So neutralisierte er potenzielle Feindschaften.
Wer hat es getan? Für die Männer im Blaufeuer stand die Antwort bereits fest: »Seine Kleine«, Hella Flecker, geborene Nowa-kowsky, eine arbeitsscheue Meeresbiologin aus Mecklenburg-Vorpommern, die an der Westküste so schlecht gelitten ist, dass der Verdacht auf sie fallen musste. Ein Schneewittchen aus dem Osten. Auch Janne kann sie nicht ausstehen.
Den knielangen Samtmantel in makellosem Schwarz hat Janne erst diesen Monat gekauft. Für den Herbst. Eigentlich ist Schwarz nicht ihre Farbe, aber sie mochte die großen, mit Samt überzogenen Knöpfe, den schmalen, taillierten Schnitt und die Tatsache, dass er wie maßgeschneidert passte. Sie wollte ihn nur bei Gelegenheit tragen. Die Gelegenheit kam schneller als der Herbst. Sie weiß, dass der Mantel zu warm ist für das Spätsommerwetter. Genau wie der Anzug ihres Vaters. Janne betrachtet sich im Spiegel. Sie sieht aus wie eine Frau, die zu lange hinter Glas gelebt hat.
Als Viktoria Flecker ihre Tochter erblickt, sagt sie als Erstes: »Was für ein zauberhafter Mantel, Janne. Vintage-Flair, sehr edel. Steht dir.« Dann, nach einer Pause, fügt sie hinzu: »Wie schön, dass es dir besser geht.«
Die Familie sitzt in der Küche beim Frühstück zusammen, auf dem Tisch brennt eine Kerze. Hella ist da. Anstatt zu essen oder zu trinken, stiert sie auf die Tischplatte. Janne, die nicht mit ihrer Schwägerin gerechnet hat, geht grußlos an ihr vorbei und gießt sich einen Becher Kaffee ein.
»Es geht mir nicht besser, nur anders«, sagt sie.
»Willst du frühstücken?«, fragt ihre Mutter.
»Nein, danke. Es wird heute sicher ausreichend zu essen geben, nicht wahr?« Janne vermutet, dass Viktoria Flecker die Beerdigung ihres Sohnes mit derselben Akribie organisiert hat wie seine Hochzeit vor drei Jahren. Jannes Eltern bevorzugen die klassische Rollenverteilung: Er schafft das Geld heran - abgesehen von dem beachtlichen Erbe, das Viktoria zum Vermögen beisteuern konnte -, sie kümmert sich um alles andere und in erster Linie um ihn. Beide agieren sehr effizient, soweit Janne das beurteilen kann.
»Natürlich ist für alles gesorgt. Du solltest trotzdem ein wenig frühstücken«, sagt Viktoria, der die Strapazen der vergangenen Tage kaum anzusehen sind. Ihre rotblonde Bobfrisur wirkt frisch geschnitten und nachgefärbt.
Janne trinkt Kaffee, während ihre Mutter sie über den geplanten Ablauf der Trauerfeier in Kenntnis setzt. Beim Programmpunkt Ave-Maria als Violinsolo protestiert sie: »Oh, Mama, bitte tu mir das nicht an.«
»Du hast die Geige doch extra mitgebracht.«
»Ich habe sie nicht extra mitgebracht, ich habe sie immer dabei, und das weißt du.«
Die Diskussion geht hin und her. Niemand mischt sich ein. Jannes Mutter wird so laut, dass ihr Atem die Kerze ausbläst. Sie redet, als wäre Eriks Leben nicht bereits vergeudet, sondern hinge von diesem Ave-Maria ab. Letztlich gelingt es ihr, Janne damit moralisch unter Druck zu setzen. Sie beschließen, dass Janne auf der Empore neben der Orgel spielen soll, also nur zu hören und nicht zu sehen sein wird.
Paul Flecker mahnt zum Aufbruch. Als Janne hinter Hella hinaus in die gleißende Sonne tritt, verspürt sie beim Anblick des Paradepopos unter einem fließenden und wie immer ein wenig zu kurz geratenen Nichts aus schwarzem Chiffon den inständigen Wunsch, ihre Schwägerin möge als Täterin überführt werden.Sie wird sehr wütend. Es ist eine Wut, die sich wie Hunger anfühlt.
Den Weg zum Friedhof legen sie zu fünft in der Familienlimousine zurück. Janne sitzt auf der Rückbank, eingeklemmt zwischen Meinhard und Hella. Ihre Körper glühen vor Hitze. Daran ändert auch die Klimaanlage nichts, die einen harten Strom Kaltluft auf Jannes Brustbein bläst.
»Und? Hast du meinen Bruder auf dem Gewissen?«, flüstert Janne ihrer Schwägerin ins Ohr.
Hella schließt die Augen und legt den Kopf in den Nacken. »Ich wusste, dass du das denkst«, sagt sie erstickt. Eine einzelne Träne rinnt über ihre dezent geschminkte Wange. Hübsch.
»Nicht nur ich, glaub mir.«
»Muss das jetzt sein?«, flüstert Meinhard von rechts. »Findest du nicht, wir sollten dafür sorgen, dass es ein
Weitere Kostenlose Bücher