Blaufeuer
ihr kurz die Tränen, aber sie unterdrückt sie, weil sie findet, dass eine rammelvolle Kapelle kein guter Ort zum Weinen ist. Es stört sie auch bei den anderen.
Niemand erwähnt den Mord, was Janne nicht begreifen kann. Als habe der Tod, den jemand stirbt, bereits nichts mehr mit dem Menschen zu tun. Zuletzt predigt Friederike Reemts zwar irgendetwas von Sühne, aber ihre Formulierungen sind kryptisch. Ein Kirchenlied erklingt, und das ist das Zeichen für Janne, dass sie als Nächste an der Reihe ist.
Unter dem Dachgewölbe konzentriert sich der Schweißgeruch. Es ist sehr eng auf der Empore neben der Orgel. Janne muss auf der Bank sitzend geigen und darauf achten, nicht mit dem Bogen gegen einen der Balken zu stoßen. Gounods Ave-Maria auf Bachs Prelude Nr. i beherrscht sie selbstverständlich auswendig. Sie spielt mechanisch, während sie gegen den Brechreiz ankämpft, den die schlechte Luft auslöst. Ihre Hände schwitzen. Für die Geige ist die feuchte Hitze ebenso ungünstig, die Wirbel verrutschen dann leicht, und Janne muss auch deswegen mit ihren Bewegungen vorsichtig sein. Nach wenigen Takten klingt die E-Saite zu tief, was außer ihr vermutlich niemand wahrnimmt. Meinhard vielleicht, der beinahe so ein feines Gehör hat wie sie. Janne merkt, wie die Zuhörer unten in den Bänken Rührung übermannt. Sie denkt an den Abend, als sie erfahren hat, dass Erik nicht mehr lebt. Daran, wie die Oliven über die Dielen gekullert sind.
Auf dem Platz vor der Kapelle sind weitere Trauergäste eingetroffen. Anders als bei der Beisetzung ihrer Eltern tragen viele nicht Schwarz, sondern Dunkelblau - die seemännische Trauerfarbe. Die halbe Stadt hat sich versammelt, so kommt es Janne zumindest vor. Sie ist überwältigt, obgleich sie weiß, dass ihr Bruder außergewöhnlich viele Leute gekannt hat: Er war Rettungs-Schwimmer,Eishockeytrainer einer Jugendmannschaft, Sportsegler und ein tüchtiger Bootsbauer, der das Meer und den Wind liebte. Eine bizarre Vorstellung, dass jemand wie er nun gleich in einem Eichenmöbel begraben, windgeschützt und weit weg vom Strand, Frieden finden soll.
Sie folgen den Sargträgern über sandige Wege zu dem Teil des Friedhofs, wo alteingesessene Kapitäns- und Reederfamilien ihre Grabstellen haben. Zwar ist Paul Flecker kein gebürtiger Cuxhavener, sondern als Kind mit seiner Mutter aus Schlesien in den Norden geflohen, aber seine Frau entstammt einer Seefahrerdynastie, was Erik einen Ehrenplatz in der besseren Gesellschaft der Toten garantiert. Eine Staubwolke umhüllt die Prozession.
»Ich glaube, dass Erik eine Seebestattung lieber gewesen wäre«, sagt Janne zu Meinhard. »Hat er das nicht mal erwähnt?«
»Er war dreiunddreißig Jahre alt, Janne. Er wollte ein Haus bauen und Kinder in die Welt setzen. Denkst du, er hatte da nichts Besseres zu tun, als seine Beerdigung zu planen?« Meinhard schlurft mit gesenktem Blick neben ihr her. »Da glaubst du, es läuft endlich rund, das Leben meint es gut mit dir, und plötzlich ist alles aus.«
Janne stutzt. Sie ist der Meinung, dass in Eriks Leben eigentlich immer alles rund gelaufen ist. Weiß Meinhard mehr als sie? Hatte ErikProbleme, die er seinem Bruder anvertraut hat und ihr nicht? Schwer vorstellbar.
»Deine Rede war schön. Die Anekdoten von damals. Das meiste hatte ich vergessen«, sagt sie.
»Ja? Ich habe nichts vergessen. Keinen einzigen Tag unserer Kindheit«, entgegnet Meinhard. Janne sieht, dass er geweint hat. Es hat nicht den Anschein, als würden ihm seine Erinnerungen Trost bescheren. Sie müssen beide husten wegen des Staubs.
Am Grab spricht Paul Flecker einige Worte zum Dank für die große Anteilnahme. Er ist kaum zu verstehen, und Janne sieht,wie bitter ihm jedes einzelne Wort schmeckt. Anschließend fällt ihm Gabriele Bremer, seine Sekretärin, unter Tränen um den Hals, und Janne stellt sich erstmals die Frage, was nun, da der Nachfolger fehlt, aus der Werft werden soll.
Das Vaterunser eröffnet das Finale der Beerdigung. Während der Sarg in der Erde versenkt wird, spielt ein amerikanischer Studienfreund von Erik, der aus Boston angereist ist, »Amazing Grace« auf dem Dudelsack. Es ist sehr laut. Der Totengräber, der direkt neben ihm steht, sieht aus, als hätte er Schmerzen. Bei der dritten Strophe sackt Hella anmutig in sich zusammen, wird aber von Meinhard und Paul Flecker aufrecht gehalten und rasch wieder auf die hochhackigen Riemchensandalen gestellt. Janne nimmt die Schaufel und schleudert die
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