Blaufeuer
wenig. Die Zeit verrinnt zäh, jede Minute klammert sich fest.
»Ihr Geigenspiel hat mich tief berührt, Janne«, sagt Friederike Reemts. »Ich denke, es war ein sehr tröstlicher Augenblick für uns alle.«
»Für mich nicht«, antwortet Janne.
Die Pastorin nickt mit verständnisvollem Ernst. Das Nicken einer Frau, die darin geschult wurde, nichts persönlich zu nehmen - nicht einmal, wenn es persönlich gemeint ist.
Janne trinkt vier Becher Kaffee. Immer noch verspürt sie keinen Hunger. Sie macht sich Vorwürfe. Sie hätte erkennenmüssen, wie die Kräfte ihres Vaters nach Eriks Tod dahinschwanden, die Anzeichen waren da, aber sie hat ihnen keine Beachtung geschenkt. An den Wänden des Warteraums hängen Ölbilder von Windjammern in stürmischer See. Sie würden ihrem Vater gefallen. Lange nach Einbruch der Dunkelheit lässt sich Meinhard endlich im Wartezimmer blicken. Da er Arzt ist, durfte er die Behandlung des Familienoberhauptes im Auge behalten.
»Und? Los, sag was«, presst Janne hervor. Nils ergreift ihre Hand und hält sie fest.
»Er wird wieder.«
Die Zeit gewinnt an Fahrt.
Ein Neurologe und der Leiter der Notaufnahme versorgen Janne und ihre Mutter mit medizinischen Fakten: Paul Flecker hat einen Schlaganfall erlitten, genauer gesagt, einen primär ischämischen Hirninfarkt, der Lähmungen der rechten Körperhälfte verursacht. Es wurde eine Computertomographie seines Schädels gemacht. Der Neurologe zeigt ihnen die Aufnahmen, als würde erUrlaubsfotos vorführen. Er frohlockt, weil der Verschluss in der Arterie seiner Meinung nach so deutlich zu erkennen ist, dass »jeder Laie ihn prima sehen kann«. Janne weiß nicht, wie eine Arterie aussieht. Weder mit noch ohne Verschluss.
Nach einer mehrstündigen und erfolgreich verlaufenden Lysetherapie, einer Infusion mit starken gerinnungshemmenden Medikamenten zum Abbau des Gerinnsels, bezeichnen die Mediziner seinen Zustand nun als stabil, er ist bei Bewusstsein und wieder in der Lage, sich zu verständigen.
»Wird etwas zurückbleiben?«, fragt Viktoria Flecker.
»Das können wir im Moment nicht sagen«, antwortet der Leiter der Notaufnahme. »Es bestehen gute Chancen, dass er wieder vollkommen gesund wird. Aber ...« Er unterbricht sich.
»Aber was?«, fragt Janne.
»Am besten, Sie gehen jetzt erst einmal zu ihm. Er wartet auf Sie. Wir können ja morgen weiterreden.«
Paul Flecker liegt verkabelt wie eine Laborratte in einem Einzelzimmer auf der Intensivstation. Er wird nicht beatmet, aber eine Nasensonde versorgt ihn mit zusätzlichem Sauerstoff. Auf einem Computerbildschirm kann Janne Daten über Sauerstoffsättigung, Pulsfrequenz und Hirnströme ablesen, in seinem Gesicht steht geschrieben, wie er über das Szenario urteilt: Er hasst es. Das findet sie beruhigend.
Sie bleiben nicht lange. Jannes Mutter wiederholt, was der Arzt über seine Genesungsaussichten gesagt hat, worauf ihr Mann versucht, etwas zu antworten, doch sie verstehen ihn nicht, seine Worte sind zu verwaschen. Als Viktoria sich auf den Bettenrand setzt, streichelt er ihr unbeholfen mit der linken Hand über die Wange. Die andere liegt schlaff auf dem weißen Laken. Janne wendet sich ab.
Sowohl vor dem Krankenhauseingang als auch vor der Flecker-Villa warten Journalisten auf Janne und ihre Familie. Geduckt hasten sie vorbei, ohne einen Kommentar abzugeben, wieder bewährt sich der Geigenkasten als Schutzschild für Janne. Im Haus schließen sie Fensterläden und Gardinen. Das Telefon läutet unentwegt, auf dem Anrufbeantworter in der Garderobe blinkt die Ziffer dreiundzwanzig. Janne zieht den Telefonstecker heraus. Jetzt ist lediglich der Anschluss im Arbeitszimmer ihres Vaters zu erreichen. Von dort ist das Klingeln nur schwach zu hören. Die Stationsschwester wird sich notfalls auf Meinhards Handy melden. Sie sind nur noch zu dritt. Nils ist nach Hause gefahren. Friederike Reemts ist am Bett Paul Fleckers zurückgeblieben, um ein Gebet mit ihm zu sprechen. Er hätte sie wegschicken können, aber er wollte es so.
Die Leere in dem großen Haus lässt Janne frösteln. Sie macht Feuer im Kamin und schenkt drei Gläser Whisky ein. Bis weit nach Mitternacht sitzen sie wie sediert beieinander und sehen zu, wie sich die rot und bläulich flackernden Feuerzungen durch das Holz fressen. Hin und wieder legt Meinhard ein neues Scheit auf, und wenn es sehr trockenes Holz ist, das knallt und Funken versprüht, zucken sie alle drei zusammen.
Das Schweigen entfremdet sie
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