Blaufeuer
die sein Vermögen durchbringen wollte? Oder vor einer kaltblütigen Mörderin? Beide Varianten sind aus heutiger Sicht gleichermaßen deprimierend. Denn Hellas Lebenswandelund Eriks Kontostand waren wahrhaftig nicht ihre Angelegenheit, wie Janne in diesem Augenblick begreift. Da hätte sie sich raushalten sollen. Und falls Hella ihren Mann tatsächlich umgebracht hat, hätte Janne es verhindern können? Wäre Erik noch am Leben, wenn sie ihre Abneigung gegen diese Person hinterfragt und klug interpretiert hätte? Fragen, auf die es keine Antwort gibt, nur die Gewissheit, dass sie einen erheblichen Teil der Zeit mit ihrem Bruder für sinnlose Diskussionen über Geld verschwendet hat. Geld, das im Überfluss vorhanden war und ist. Geld, das sie auf der Stelle bis zum letzten Cent herschenken würde, könnte sie dafür nur eine letzte Viertelstunde mit ihm verbringen. Oder bloß eine einzige Minute, einen Wortwechsel: »Entschuldige, dass ich so bescheuert war.« »Schon vergessen.«
Janne reibt sich die Augen, hinter denen sich ein leichter Druck zu einem Kopfschmerz zu verdichten beginnt. Nach dem Geigenspiel in der Kapelle fühlt sie sich porös. Sie hört dem Tischgespräch zu. Die Gäste tauschen Anekdoten über Erik aus, sorgsam darauf bedacht, sich nicht auf gefährliches Terrain vorzuwagen.
Nils, der neben Janne sitzt, deutet auf das angebissene Canape auf ihrem Teller. »Keinen Hunger?« »Wie du siehst.«
»Du solltest etwas essen.« Er zögert und legt dann einen Arm um sie. Seine Fürsorge ist wie eine alte Daunendecke: verklumpt, zu schwer und zu warm für Janne.
»Vielleicht ein Stück Kuchen?«
»Hör auf, mich zu bemuttern. Kauf dir einen Hamster, wenn du unbedingt jemanden zum Füttern brauchst.«
Nils zieht die Decke weg. »Ich weiß, was du durchmachst, Janne, aber lass es nicht an mir aus. Ich habe auch jemanden verloren.«
Der Verlauf des Gesprächs ist symptomatisch für ihr Miteinander: Meistens steht sie als egozentrische Zicke da, weil er seine Grenzüberschreitungen als Nettigkeit zu tarnen versteht und zudem mit Liebe verwechselt. Wohingegen sie der Idee verfallen ist, dass Liebe mehr sein sollte als eine Abfolge von standardisierten Betreuungsritualen. Sie sucht niemanden zum Anlehnen -sie kann frei stehen.
Janne blickt durch die trotz der Hitze geschlossenen Fenster auf das Meer und den Strand. Es herrscht Flut, die Urlauber sind in Badelaune. Zur Nachsaison sind viele junge Familien mit Kleinkindern angereist. Auf krummen, dicken Beinchen tollt der Nachwuchs umher, während die Erzeuger in den Strandkörben faulenzen. Am Himmel klebt immer noch das gleiche abgestandene Blau wie seit Tagen.
Janne murmelt eine Entschuldigung und steht auf, um ein Bier an der Bar zu trinken. Sie hat es gerade bestellt, als an der langen Tafel Aufregung entsteht. Gellend übertönen die Rufe ihrer Mutter das Stimmengewirr, sie schreit nach Meinhard, und in Janne zieht sich alles zusammen. Sie läuft zum Tisch und sieht, wie ihrem Vater die Tasse aus der Hand gleitet und sich Kaffee auf dem weißen Tischtuch ausbreitet. Er versucht etwas zu sagen, aber es sind nur gurgelnde Laute zu hören. Speichel rinnt über sein Kinn. Meinhard und zwei von den Rettungsschwimmern zerren ihn zu Boden, wo sie sich weiter um ihn bemühen. Ein Kellner wählt den Notruf. Nachdem ein Krankenwagen mit Blaulicht und Sirenengeheul eingetroffen ist, rotten sich im Freien Dutzende Schaulustige in Bikinis und Badehosen zusammen und glotzen so lange ungehemmt durch die Fenster hinein, bis Eriks Eishockeymannschaft sie in die Flucht treibt und nur noch die Fettabdrücke ihrer Finger auf dem Glas zurückbleiben.
PAUL
Er muss mit dem Polizeipräsidenten reden. Gleich morgen früh. Der soll seinen Leuten gehörig auf die Finger hauen, diesen Knaben von der Mordkommission, die keinen Funken Anstand im Leib haben. Was fällt denen ein, seine Schwiegertochter, immerhin ein Mitglied der Familie Flecker, vor den Augen der Trauergemeinde am Grab ihres Mannes in Ketten zu legen? Dafür zahlt er nicht Steuern und, in aller Stille, noch einiges mehr. Eine infame Fehlentscheidung, zumal - da ist er sich sicher - dieses Frauenzimmer aus dem Osten nichts mit dem Mord an Erik zu tun haben kann. Er war weiß Gott nicht glücklich über die Wahl seines Sohns, aber das macht Hella nicht zur Mörderin. Harmlos ist die, schlichtweg harmlos. Dass Viktoria diese Ansicht nicht teilt, hat sie nach der Verhaftung jedermann wissen lassen:
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