Blaufeuer
ernährt, um sie jetzt auseinanderzureißen. Ihre Mutter hat richtig entschieden: Eine Seebestattung wäre blanker Hohn gewesen.
Im Krankenhaus wird Stunden später das Urteil über Paul Flecker in dessen Abwesenheit gesprochen: Seine Ärzte befinden ihn für schuldig. Weil er älter als fünfundfünfzig Jahre, ein Mann und übergewichtig ist, weil er hohen Blutdruck hat und sich zu wenig bewegt, hat er den Schlaganfall aus ihrer Sicht geradezu provoziert. Das Leben hat ihm »die Gelbe Karte gezeigt«, wie sie es nennen. Deswegen soll er ändern, was noch zu ändern ist, undJanne, Meinhard und ihre Mutter haben die Aufgabe, ihn davon zu überzeugen.
»Ich sage das jetzt mal drastisch. Wenn er etwas von seiner Rente haben will, sollte er sich sehr bald zur Ruhe setzen«, meint der Neurologe, und es klingt, als habe er derartige Ermahnungen so oft ausgesprochen, dass sich das Drastische abgenutzt hat. Er wirkt eher gelangweilt. Erneut illustriert er seinen Vortrag mit den Urlaubsfotos aus Paul Fleckers Hirnregion, sein Zeigefinger reist von einer Arterienverkalkung zur nächsten. »Er ist ein schwerkranker Mann, vergessen Sie das nicht, auch wenn er sich im Augenblick außerordentlich gut zu erholen scheint.«
Ein gebrochenes Herz, ein implodiertes Hirn - kränker könnte ein Mann nicht sein. Um das zu begreifen, braucht Janne keine Computertomographie.
Auf der Fahrt nach Hause hören sie in den Radionachrichten von einem Amoklauf an einer Schule in einem benachbarten Landkreis. Mehrere Jugendliche und Lehrer wurden lebensgefährlich verletzt, der Attentäter von der Polizei erschossen.
»Wenigstens sind wir jetzt die Journalisten los«, sagt Meinhard. Janne hat genau das Gleiche gedacht, behält es aber für sich. Am Abend gibt es keinen Whisky, sondern Mineralwasser und Hausmannskost. Das Essen, das Viktoria Flecker gekocht hat, besteht hauptsächlich aus Gemüse. Das Zeitalter der Schonkost hat begonnen. Nach dem obstreichen Dessert bleiben sie am Tisch sitzen, um zu beratschlagen, wie sie aus den Ruinen etwas zusammenkratzen können, was den Namen Zukunft verdient. Weil sie weiterhin nicht imstande sind, über ihre Gefühle zu reden, diskutieren sie über die Werft.
»Wir müssen an die Zukunft der Firma denken. Kannst du kommissarisch die Geschäftsführung übernehmen, Mama?«, wagt Meinhard zu fragen. »Natürlich nur, bis es Papa wiederbesser geht und er seine Angelegenheiten regeln kann. Ich würde dir selbstverständlich zur Seite stehen, wenn du willst.«
Viktoria Flecker winkt ab. »Auf keinen Fall. Ich habe mich nie in die Arbeit eures Vaters eingemischt, und daran wird sich nichts ändern. Zumal es keinen Sinn ergäbe, da Paul nicht mehr lange weitermachen kann, ihr habt ja den Arzt gehört. Und wir wollen den Ruhestand schließlich gemeinsam verbringen.«
Ruhestand. Wieder so ein neues Wort in Jannes Sprachschatz. Wieder eines, das sich nicht unzerkaut schlucken lässt. Janne blickt ihrer Mutter ins Gesicht, entdeckt Spuren des Verfalls, die früher nicht da waren oder die sie nicht bemerkt hat, und denkt an ihren Vater im Krankenhausbett. Auf einmal sind ihre Eltern alt. Sie hat es nicht kommen sehen, Ostern war noch alles normal, und nun schwindet ihre Vitalität durch Eriks Tod schneller dahin, als Janne erwachsen werden kann.
»Was soll also jetzt mit der Werft geschehen?«, fragt sie.
»Na, ihr müsst euch kümmern«, sagt Viktoria Flecker und ergänzt nach einer Pause: »Meinhard wäre wohl am ehesten dazu in der Lage.«
Janne atmet auf.
»Ich bin Chirurg«, entgegnet Meinhard und fügt nach kurzem Zögern hinzu: »Aber natürlich will ich mich nicht um die Verantwortung drücken.«
Janne besitzt ein Foto von ihrem Bruder, das ihn in Indien in irgendeinem improvisierten Operationssaal mit türkisgrünen Wänden zeigt. Sein Kittel ist zerknittert, aber strahlend weiß, und er lächelt wie jemand, der angekommen ist. »Vielleicht sollten wir verkaufen«, sagt sie.
»Das würde Paul umbringen«, antwortet ihre Mutter, und sie beschließen, das Gespräch zu vertagen.
PAUL
Die Entmündigung ist das Schlimmste. Schlimmer als das Liegen und die Langeweile, schlimmer als die Übelkeit, die Rückenschmerzen und die Demütigung, wenn blutjunge Mädchen in Schwesternkluft kontrollieren, ob der Katheter in seinem Schwanz genügend Urin in den Beutel am Bett befördert hat. Als ob er nicht hören könnte, wie sie über ihn reden, wie sie ihn abschreiben, ohne zu fragen, ob er
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