Blaufeuer
voneinander. Je länger es andauert, desto mehr scheint es, als wäre die Ohnmacht gegenüber den Geschehnissen das Einzige, was sie noch verbindet. Sie sollten reden, und sei es über etwas völlig anderes. Zum Beispiel über etwas Lustiges wie das Geräusch, das der Dudelsack von sich gegeben hat, als er auf den Boden fiel. Wie eine angeschossene Ente. Ja, vielleicht sollten sie albern sein. Was bleibt ihnen sonst? Doch jemand müsste den Anfang machen, und Erik ist nicht mehr da.
Plötzlich schlägt Viktoria Flecker die Hände vor dem Gesicht zusammen und beginnt zu weinen. Ein schier endloser Tränenstrom, versetzt mit Resten schwarzer Wimperntusche, bahnt sich den Weg durch ihre Finger, fließt beide Arme entlang. Die Tränen tropfen auf ihren Schoß und auf das Parkett. Janne und Meinhard harren aus. Als sie nacheinander versuchen, ihre Mutter zu trösten, stößt sie beide wortlos von sich.
»Sollen wir einen Arzt rufen?«, fragt Janne ihren Bruder.
»Ich bin Arzt.«
»Dann hilf ihr.«
Es gibt keine Hilfe, das wissen sie beide. Viktorias Gefühlsausbruch nimmt in gespenstischer Stille seinen Lauf. Kein Schluchzen, kein Klagen, nur diese Flut von Tränen und gelegentlich ein Schniefen. Sie wiegt den Oberkörper leicht vor und zurück, als wäre sie in einer Meditation versunken.
Hilflos registriert Janne, dass ihre Familie weiter an Form undSubstanz verliert wie ein zu heiß gewaschenes Strickkleid, und sie ist sicher, dass dies das tiefste Loch ist, in das sie je fallen konnte. Sie flüchtet ins Bett.
Im Morgengrauen sitzt Meinhard immer noch - oder schon wieder - vor dem erkalteten Feuer. Er trinkt Kaffee. Janne betrachtet ihren Bruder von der Seite und bemerkt, wie die Hand, die den Becher hält, kaum merklich zittert. Er hat große Ähnlichkeit mit Erik und sieht doch ganz anders aus: hagerer und eine Spur melancholisch. Sie kennt ihn nicht anders. Meinhard ist ein ernsthafter Mensch, der sich bereits als Jugendlicher intensiv um den Zustand der Welt gesorgt hat und heute in erster Linie für seinen Beruf lebt. Den Urlaub opfert er regelmäßig für Ärzte ohne Grenzen, womit ihm die ewige Anerkennung seines Vaters sicher ist. Da Paul Flecker nur die Volksschule besucht hat, ist er besonders stolz, einen Chirurgen in der Familie zu haben.
Janne fragt sich, ob Meinhards Erlebnisse in der Dritten Welt ihn für das Unheil daheim gestärkt haben. Ob er besser als sie mit all dem klarkommt. Es sieht nicht danach aus.
»Was glaubst du, Meinhard, ist es das Ende?«
»Was meinst du damit?«
»Ist dies das Ende unserer Familie?«
»Ach, Janne, natürlich nicht. Irgendwie geht es immer weiter.«
Er holt ihr einen Kaffee. Sie fragt ihn nach seiner Freundin, und er berichtet nüchtern vom Ende der kurzen Liaison mit der Internistin. Die Trennung sei keine große Sache gewesen, ebenso wenig wie die Beziehung. Janne hört zu und grübelt über die Liebe zwischen Erik und Hella nach, die um so vieles größer war. So groß, dass er ihretwegen einen Bruch mit der Familie riskiert hat. So groß, dass er dafür sterben musste - vielleicht weil seine Gefühle erkaltet waren?
Sie kann nicht aufhören, an Hella zu denken. An ihre Tränenim Auto auf dem Weg zur Beerdigung und an ihren Hass auf die Familie nach der Verhaftung. Eigentlich war es mehr ein Hilfeschrei als Hass.
Mit dem Becher in der Hand durchmisst Janne rastlos das Haus und kehrt schließlich in ihr Zimmer zurück, wo sie den Siegelring ihres Vaters auf dem Schreibtisch erblickt. Sie steckt ihn sich an. Seltsamerweise ist er immer noch warm. Es kommt ihr vor, als hätte sie eine Warnung erhalten und ignoriert.
Janne bricht zu einem Strandspaziergang auf, sie braucht Weite und frische Luft. Es ist Flut. Das graue Meer schläft noch, räkelt sich im Zwielicht, während der erste Schwimmer, ein alter Mann, sich vortastet, bedächtig und leise, als wollte er es nicht wecken. Er rudert mit den Armen und benetzt seine Brust.
Janne wirft einen Stein ins Wasser, einen ziemlich großen, und gleich einen noch größeren hinterher. Ihre Arme schmerzen, so schwer ist er. Der Mann dreht sich nach ihr um. Sie starrt ihn an, worauf er sich kopfschüttelnd abwendet und eintaucht. Mit kräftigen Zügen krault er davon, er ist ein guter Schwimmer. Das wiegt ihn in Sicherheit. Er schwimmt weit hinaus.
Janne muss erkennen, dass sie das Wattenmeer, das watend begehbare Meer, nun mit anderen Augen betrachtet. Als Handlanger des Todes. Es hat ihre Familie jahrelang
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