Blaufeuer
Boden. Auf den Steinplatten liegt Sand. So ist das am Meer: Die Leute tragen die Sandkörner vom Strand in ihren Schuhen überallhin. Jeder knirschende Schritt erinnert sie an das Watt, an ihren Bruder und die Art, wie er gestorben ist. Sie muss zusehen, dass sie von hier wegkommt.
Im Auto erhält Janne einen Anruf von ihrem Vater. Er zitiert sie ins Krankenhaus, wo der Pförtner sie darüber informiert, dass Paul Flecker verlegt worden ist. Ein gutes Zeichen. Auf dem langen Flur der Station begegnet sie dem Neurologen. Er zwinkert ihr zu, als wären sie Verbündete oder alte Freunde, und sein Daumen zeigt nach oben. Hoffnung keimt auf: Ob sie schon morgen zurück nach Berlin kann?
Sie haben Paul Flecker in einen sonnengelb gestrichenenRaum mit gerahmten Blütenbildern verfrachtet. Auf sämtlichen Abstellflächen duften üppige Blumensträuße vor sich hin. Jannes Vater macht sich nichts aus Blumen und gelben Wänden. Er sitzt aufrecht im Bett und telefoniert mit dem Handy, neben ihm steht ein Becher Pfefferminztee, den er nicht angerührt hat. Er gestikuliert, als befände er sich am Schreibtisch in seinem Büro. Sein grauer Pyjama verleiht ihm eine gewisse Seriosität. Als er sie bemerkt, beendet Paul Flecker das Telefonat und winkt sie zu sich heran. So weit Janne erkennen kann, sind keine Lähmungserscheinungen mehr vorhanden. Eher im Gegenteil. Er wirkt agiler als zuletzt vor seinem Schlaganfall.
»Janne, da bist du ja. Wo treibst du dich denn herum, so früh am Morgen?«
Sie küsst ihn auf die Wange. »Gut siehst du aus, Papa. Ich habe Nils zum Zug gebracht.«
Eine robuste Krankenschwester will Tee nachschenken und schimpft mit ihm, als sie den vollen Becher sieht. Er fordert sie auf, »das Grünzeug« aus dem Zimmer zu schaffen und an die hübschesten Patientinnen weiterzuverschenken. Sie sagt, mit seinem Chauvinismus komme er bei ihr nicht weit, und außerdem seien nur dicke alte Männer auf der Station. Janne lacht auf, ein befreiendes Gefühl, das leider nicht lange anhält. Die Krankenschwester lässt die Sträuße stehen, aber bald darauf erscheint eine andere mit einem leeren Servierwagen und räumt sie fort.
»Wohin soll das mit dir und Nils eigentlich führen? Ich dachte, ihr seid getrennt«, nimmt ihr Vater den Faden auf.
»Ist es das, worüber du so dringend mit mir reden wolltest?«
Paul Flecker räuspert sich. »Nicht direkt, aber im Grunde hängt es damit zusammen. Bitte setz dich.«
Das klingt beunruhigend. Janne schiebt einen Stuhl ans Bett und nimmt umständlich Platz.
Ihr Vater fixiert sie. »Bist du glücklich?«
Sie lächelt gequält. »Wie sollte ich?«
»Abgesehen von der ganzen Misere hier. Bist du glücklich mit deinem Leben in Berlin?« »Ja.«
»Wirklich?«, will er wissen, ohne sie auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Wenn Eltern solche Fragen stellen, sind sie selten offen für jede Art von Antwort.
»Ja, ob du es glaubst oder nicht. Wobei ich mich nicht in einer Phase befinde, in der ich intensiv nach Glück suche. Ich glaube nicht, dass Glücklichsein etwas ist, das man sich erarbeiten kann wie den Stoff für ein Staatsexamen. Glück ist ja keine Tapferkeitsmedaille für irdischen Fleiß.« Janne findet, sie redet wie jemand, der etwas zu verbergen hat.
»Das ist der größte Mist, den ich je gehört habe. Glück bedeutet Hingabe, und die vermisse ich bei dir. Verkriechst dich bei den zweiten Geigen, anstatt der Welt zu zeigen, was du kannst. Und den Mann, den du offensichtlich liebst, lässt du vorm Traualtar stehen, aber freigeben willst du ihn auch nicht, den armen Kerl.« Paul Flecker streicht die Bettdecke über seinem Bauch glatt und begutachtet die eigene Körperfülle.
»Wir standen nicht vor dem Traualtar, bis zur Hochzeit waren noch Wochen Zeit. Außerdem ist er frei und erwachsen, er kann gehen, wohin er will, und ob ich ihn liebe, ist allein meine Sache. Papa, ich bitte dich, halt dich aus diesen Dingen heraus, lass uns nicht über Glück philosophieren, sondern sag einfach, was du von mir willst.«
»Dass du Eriks Erbe antrittst.«
»Wie?«
»Indem du in die Firma einsteigst.«
Nein. Tausendmal nein. Das kann er nicht von ihr verlangen. Janne will aufspringen und protestieren, sie will ihren Vater auslachen,ihm unmissverständlich klarmachen, dass er Unmögliches fordert, aber sie tut nichts von alldem. Keinen Ton bringt sie heraus. Stattdessen bleibt sie sitzen und betrachtet ihre Hände. Sie hat trockene Haut. Das ist ihr beim
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