Blaufeuer
Vorspielen in der Kapelle schon aufgefallen. Sie sollte öfter Creme benutzen. Das Handy ihres Vaters klingelt. Er schaltet es ab.
»Janne, ich warte auf eine Antwort. Nerv mich jetzt nicht mit dieser Autistennummer.«
»Wieso ausgerechnet ich?«
»Weil du es kannst. Du musst dir nur selbst in den Hintern treten. Ich kenne dich. Wenn es etwas gibt, für das du bereit bist, mit vollem Einsatz zu spielen, dann ist es die Familie.« Paul Flecker verschränkt die Hände hinter dem Kopf. Er lässt sie nicht aus den Augen.
»Was ist mit Meinhard?«, fragt Janne.
»Ich würde nie von ihm verlangen, dass er seinen Beruf aufgibt.«
»Aber von mir verlangst du es.«
»Dein Beruf ist allenfalls eine Beschäftigung.«
»Die mich ernährt.«
»Aber mehr auch nicht. Für den gehobenen Lebensstandard sorgt das Familienvermögen. Oder wer hat deine Wohnung und dein Auto bezahlt?«
Janne steht auf und tigert durch den Raum wie unzählige Besucher vor ihr, als andere Patienten in dem Bett lagen. Vom Fenster zur Tür und zurück. Das Linoleum ist abgenutzt. Wieder reibt Sand unter ihren Sohlen, vermutlich hat sie ihn selbst hereingeschleppt. Der Blick ihres Vaters folgt ihr erbarmungslos. Sie fühlt sich zu Unrecht in die Enge getrieben. Sicher, sie gibt viel Geld aus, aber ihre Eltern drängen es ihr ja auch auf.
»Janne, tut mir leid, dir den Spaß zu verderben, ich hab es dir ja von Herzen gegönnt, das süße Leben in Berlin. Du bist nichtmeine erste Wahl, sondern das letzte Aufgebot, verstehst du? Die Familie braucht dich jetzt.«
»Warum redest du die ganze Zeit von Familie, wo es doch um die Zukunft der Werft geht?«
»Die Werft ist mein Lebenswerk und das deines ermordeten Bruders. Langt das nicht?«
Janne zieht eine Grimasse wie nach einem Schluck korkigen Weins. Wenn ihr Vater etwas erreichen will, scheut er keine The-atralik, das kennt sie bereits, aber diesmal geht er entschieden zu weit. Wie kann er es wagen, Eriks Tod zu benutzen, um sie bei ihrem Gewissen zu packen? Sie verlässt den Linoleum-Trampelpfad und stellt sich ans Fußende des Betts. Provozieren ist keine Kunst, das kann sie auch. Besser sogar.
»Ich bin ja nicht mal dein Kind«, sagt sie.
Die zweite Runde geht an sie. Diesmal ist ihr Vater sprachlos, und Janne kann nicht leugnen, dass es sie mit Genugtuung erfüllt zu sehen, wie er um Fassung ringt. Er kommt ganz schön ins Schwitzen. Dann fängt er an, sie mit Vorwürfen zu überschütten. Dass er nie einen Unterschied zwischen ihr und den Jungs gemacht habe, dass sie stets uneingeschränkt dieselben Privilegien genossen habe wie ihre Brüder und dass sie sehr wohl seine Tochter sei - nicht nur auf dem Papier oder in seinem Herzen, sondern auch vor Gott, mehr als sie ahne ...
Janne horcht auf. »Was soll das heißen?«, unterbricht sie ihn.
Er hustet trocken, holt eine Tüte Bonbons aus der Schublade neben seinem Bett und steckt sich einen in den Mund.
»Was das heißen soll, habe ich gefragt.«
»Wie sprichst du eigentlich mit mir?« Er saugt an seinem Bonbon, das nach Lakritz riecht. »Papa, bitte.«
»Nichts weiter, es war nur so dahingesagt.«
»Ach ja?« »Ja.«
»Und was hast du neuerdings mit Gott zu schaffen?«
»Er mit mir, Kind, er mit mir. Sieh mich doch an.« Er hustet wieder, wird zusehends bleicher dabei, erschreckend bleich.
»Vielleicht sollten wir ein andermal weiterreden«, schlägt Janne vor.
Er nickt langsam. »Ja, das wäre besser. Denk in Ruhe über alles nach.«
Sie sieht, wie seine Augen schwer werden, aber er hält sie offen. Zwischen seinen Zähnen klackt das Bonbon.
»Und, Janne, ich weiß, dass es eine Zumutung ist.«
Draußen sticht die Sonne. Auf dem Parkplatz vor der Klinik lehnt sich Janne gegen ihr aufgeheiztes Auto und atmet durch. Alles geht so schnell. Sie hat den Anschluss verpasst.
Die resolute Krankenschwester von vorhin hat ihre Schicht beendet und kommt auf sie zu. Mit dem Inhalt ihrer Handtasche beschäftigt, schlurft sie über den Asphalt. Der Parkplatz, der für mindestens hundert Autos angelegt ist, wirkt ziemlich leer. Entweder ist niemand krank, oder die Kranken bekommen keinen Besuch mehr. Als die Schwester aufblickt und Janne bemerkt, bleibt sie stehen.
»Sie machen viel durch zurzeit«, sagt sie und versucht sich an einem Lächeln.
»Was wissen Sie davon?«
»Na ja, man bekommt so einiges mit. Übrigens fragen ständig Reporter nach Ihrer Familie.«
»Reden Sie bloß nicht mit denen«, sagt Janne und fügt nach kurzer
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