Blaufeuer
Überlegung ein »Bitte« hinzu.
»Machen wir nicht.«
Die Krankenschwester hat gefunden, was sie in ihrer Handtasehegesucht hat: ein rotes Plastikfeuerzeug und eine Schachtel filterlose Zigaretten. Das Feuerzeug zischt, und das Ende der Zigarette glimmt auf. Ein erster gieriger Zug, und ihr Lächeln wird gewinnender. Sie erzählt, dass sie Marit heiße und zwei Jahre lang mit Erik in den Kindergarten gegangen sei. Später seien sie weggezogen.
»Ich wollte zur Beisetzung kommen, aber ich konnte meinen Dienst nicht tauschen.« Sie hält Janne die Packung hin.
»Nein, danke, ich rauche nicht. Da haben Sie etwas verpasst. Bei der Beerdigung, meine ich.«
Marit antwortet nicht. Sie inhaliert den Rauch und mustert ausgiebig Jannes Alfa. Janne ist erstaunt, dass sie Eriks Jahrgang ist, denn sie sieht älter aus. Viel älter.
»Manchmal ist das Leben fünf Nummern zu groß und dann wieder so eng, dass es überall kneift. Nur passen tut es nie«, sagt Marit.
Janne nickt. »Welche Größe hat es bei Ihnen?« »Sechsunddreißig.«
So wie Marit gebaut ist, brauchte sie mindestens zweiundvierzig. Und längere Zigaretten. Sie lässt den Stummel abrupt fallen, als ihre Finger heiß werden, und tritt die Glut sorgfältig aus. Ihre geschwollenen Füße stecken in Halbschuhen aus weißem Kunstleder. Zum Abschied geben sie einander die Hand. Marits Händedruck ist mehr als kräftig. Janne schaut zu, wie sie zu einem Kleinwagen geht und leise fluchend an der Fahrertür ruckelt. Sie dreht den Schlüssel im Schloss hin und her. Janne kann sich nicht erinnern, wann sie selbst zum letzten Mal ein Auto ohne Zentralverriegelung gefahren hat.
Das Fenster im Speicher quietscht noch genauso wie in all den Jahren ihrer Kindheit. Janne braucht einen Ort zum Nachdenken. Sie klettert aufs Dach. Neben dem Schornstein gibt es einSims für den Kaminkehrer, auf dem Erik und sie oft zusammen gesessen haben, um aufs Wasser zu starren und Geheimnisse zu teilen. Hier hat sie ihre erste und einzige Zigarette geraucht. Mit elf. Sie setzt sich hin und lässt die Beine baumeln. Es ist lange her. Heute flößt ihr die Höhe Respekt ein, und sie wundert sich, wie leichtsinnig sie gewesen sind. Aber wovor hatten sie als Kinder schon Respekt? In erster Linie vor ihrem Vater. Paul Flecker war die oberste Instanz für alles. War? Oder ist?
Es ist später Nachmittag. Wenn Janne nach rechts schaut, kann sie den alten Hafen und die Alte Liebe sehen und weiter östlich die runden Dächer der Werkhallen, in denen hauptsächlich hochseetaugliche Yachten gebaut werden, die ihr Vater und ihr Bruder konstruiert haben. Paul Flecker hat auf dieser Werft gelernt, als sie noch nicht seinen Namen trug, dann ist er in Hamburg mit einer Importfirma zu Geld gekommen und hat die Werft 1971 seinem ehemaligen Lehrherrn schließlich abgekauft. Der Laden stand kurz vor der Pleite. Ein makelloser Coup für einen Quiddje, wie die Leute an der Küste einen Zugereisten mit fremdem Dialekt nennen: vom Flüchtlingskind zum Eigentümer und Retter eines Traditionsunternehmens. Womit ihr Vater in seiner Hamburger Zeit Handel betrieben hat, weiß Janne nicht, wohl aber, dass er über diese Jahre nur ungern spricht.
»Wenn du es dir zutraust. Im Prinzip hast du keine Wahl«, hat Meinhard gesagt, als sie ihm gleich nach ihrer Rückkehr vom Krankenhaus von den Plänen des Vaters berichtet hat, die ihn sichtlich überrascht haben. Ebenso wie sie. Auch wenn Janne sich, solange sie auf dem Dach sitzt, der Illusion hingeben möchte, sie würde eine Entscheidung treffen, weiß sie, dass Meinhard Recht hat. Die Werft ist nicht einfach irgendein Betrieb, der glücklicherweise regelmäßig so viel Geld abwirft, dass Janne niemals billige Schuhe tragen und hässliche kleine Autos mit klemmendenTüren fahren musste. Für alle, die dort tätig sind, ist sie weit mehr als ein Arbeitsplatz. Boote überwinden Weltmeere, sie schüren Sehnsüchte und Ängste, Stolz und alle möglichen anderen Gefühle; wären sie bloß nutzwertige Gegenstände, würde man ihnen keine Namen geben. Das macht Bootsbauer zu unbeugsamen Menschen, soweit Janne das beurteilen kann, und ihr Vater ist vielleicht der unbeugsamste von allen. Sie will, dass sich wenigstens daran nichts ändert. Sie muss es zumindest versuchen.
»Hältst du dich für geeignet?«, fragt Viktoria Flecker ihre Tochter. Sie steht in der Küche und zerteilt Tomaten. Früher hatten sie eine Haushälterin, die auch fürs Kochen zuständig war,
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