Blaufeuer
dem Hafengelände mit einem weithin sichtbaren Uhrenturm. Hier sind einst vor ihrer Abreise nach Übersee Tausende Auswanderer durchgeschleust worden, die meisten davon mittellose Zwischendeckpassagiere. Wenn Janne die Augen schließt, sieht sie diese Menschen mit ihren schrankartigen Koffern und warmen Mänteln vor sich, die sie auch im Sommer trugen, weil ein warmer Mantel in jener Zeit ein Leben lang halten musste, also passte man gut auf ihn auf. Viele hatten Instrumente dabei, das weiß sie von alten Fotos: Fiedeln, Schifferklaviere, Mundharmonikas. Früher wurde viel mehr musiziert, auch unter Fremden in Wartehallen, wo heute jeder sein MP3-Handy für ein Privatkonzert via Ohrstöpsel bereithält. Hat ja auch Vorteile.
Janne öffnet die Augen wieder und stellt sich der Gegenwart. Sie hat schwitzige Hände, obwohl sie viele der Unternehmer, die grüppchenweise beieinanderstehen, flüchtig kennt. Reeder, Schiffsbauer, Fischfabrikanten und Logistiker - bis vor kurzem gingen diese Leute in ihrem Elternhaus ein und aus, zudem fand jährlich ein Sommerfest auf dem Werftgelände statt, das in der Branche sehr beliebt war. Einmal hatte Paul Flecker ihretwegen extra den Konzertmeister des Rundfunkorchesters engagiert. Seine virtuose Interpretation des Liedes »Ein Schiff wird kommen« auf der Geige hat sie ungemein beeindruckt. Ein perfekter Tag.
»Was ist? Zu wenig Boheme für deinen Geschmack?«, fragt Birger.
Janne seufzt. Die »maritime Wirtschaft« ist ein Altherrenklub: dunkle Anzüge und Krawatten in gedeckten Farben, Halbglatzen, Bauchansätze. Hier und da erklingt joviales Gelächter, Zigarren werden geraucht und Vertragsabschlüsse eingefädelt. Ob Erik sich in diesen Kreisen wohlgefühlt hat? Falls nicht, konnte er das sicher besser verbergen als sie.
»Ich hole mir etwas zu essen, danach können wir uns meinetwegen dem Smalltalk widmen«, sagt sie.
Das Büffet präsentiert sich kosmopolitisch. Es gibt neben Hummer-, Krabben- und Matjes-Spezialitäten auch Sushi, das kurz in kochendes Wasser getaucht wurde, sodass die Algenhaut leicht knusprig ist. Emotional unbelastete Nahrung, weil sie Janne nicht an ihre Kindheit erinnert - himmlisch. Sie packt sich den Teller damit voll. Unterdessen hat jemand von der Industrie-und Handelskammer einen Vortrag begonnen. Dieser besteht überwiegend aus Zahlen und ständiger Wiederholung der Worte Boomfaktor, Hoffnungsträger und Innovation. Janne hört trotzdem genau hin. Mehr als dreihundert Seeschiffe sind unter den Flaggen hiesiger Reedereien auf den Weltmeeren unterwegs. Mit Schiffs- und Bootsbau verzeichnen die Flecker-Werft, eine Werftfür Doppelhüllentanker und ein Unternehmen, das sich auf Freifallrettungsboote spezialisiert hat, die meisten Umsätze. Zum Abschluss wedelt der Redner mit einer soeben erschienenen Broschüre. Inhalt: Daten und Fakten aus dem gesamten Wirtschaftszweig. Klingt brauchbar. Janne besorgt sich eine und blättert darin.
»Ach, guten Tag, Frau Flecker. Hausaufgaben nicht gemacht?«
Janne blickt auf. Der Mann von den Freifallrettungsbooten. Kettenraucher. Wenn ihr doch nur der Name einfallen würde. Sie erwidert seinen Gruß und hält aus dem Augenwinkel Ausschau nach Birger. In ihrer Verlegenheit fängt sie an zu plappern. »Interessante Lektüre. Wussten Sie, dass es entlang der Küste nur noch dreißig Krabbenkutter und zwölf Hochseefangschiffe gibt?«
»Sie nicht? Na ja, das ist für Sie ja alles Neuland.« Er klopft ihr auf die Schulter. »Wird schon«, sagt er und rückt näher an sie heran, so nah, dass sie Algenfasern vom Sushi zwischen seinen Zähnen erkennen kann. »Wie geht es denn Ihrem Vater?«
Janne, irritiert vom Übergriff des Schulterklopfens, antwortet nicht. Was lässt ältere Herren nur immerzu so aufdringlich sein?
»Steht es so schlimm?« Der Freifallrettungsbootbauer ist zum Flüstern übergegangen.
Sie nickt.
Auf die Antwort scheinen alle gewartet zu haben. Wie auf ein geheimes Zeichen ist Janne umringt. Es kommt ihr vor, als hätten die Geschäftsmänner eine Art Wettbewerb laufen, mit dem Ziel, möglichst häufig Körperkontakt zu ihr herzustellen, am besten durch Schulterklopfen. Die nächste Indiskretion gilt ihrer Stirnverletzung.
»Ein Reitunfall«, sagt Janne und ist froh, als Birger sich endlich zu ihnen gesellt.
Eine Weile reden sie über Erik: das reinste Hosianna. Janneverspeist ein Sushi-Röllchen nach dem anderen. Dann stichelt ein Reeder namens Tönnis gegen die Fleckers: »Ohne
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