Blaufeuer
gelegenen Hautschichten ein Brennen vorherrscht, als wäre die Wunde ganz frisch. In diesem Zustand wird sie niemals eine Insel sein, allenfalls ein Stück Treibgut, eine Art Wrackteil. Erstmals kommt ihr der Gedanke, dass die Bewältigung der Trauer ihre Kräfte übersteigen könnte.
»Ich glaube, dass dein Vater bald aufwachen wird«, sagt Marit sanft. »Wieso?«
Sie zögert. »Ein Bauchgefühl ... Entschuldige, ich habe mich hinreißen lassen. Eigentlich steht es mir nicht zu, solche Prognosen abzugeben.«
»Okay, okay, ich werde mich schon nicht bei deinen Vorgesetzten beschweren. Aber verrate mir bitte, wie du daraufkommst.«
»Nun«, sagt Marit errötend, »das ist pikant. Er ist, wie soll ich sagen, sexuell aktiv.«
»Aktiv?«
Marit hüstelt. »Nicht bewusst natürlich.« »Passiv also. Sexuell passiv aktiv«, sagt Janne, und das Rot in Marits Gesicht zeigt Spuren von Lila.
»Sozusagen«, antwortet die Krankenschwester. Typisch Paul Flecker.
Sie verstauen die leeren Pfandflaschen in Getränkekisten. Neben dem Leergut bleibt Janne stehen und hält Marit am Ärmelfest. »Versprich mir etwas. Wenn mein Vater tatsächlich aufwachen sollte, darf niemand informiert werden, der nicht zur Familie gehört. Überdies müsst ihr unbedingt dafür sorgen, dass außer uns niemand zu ihm gelangt. Niemand, verstehst du?«
Marits Augen weiten sich. »Ist er in Gefahr?«, fragt sie flüsternd.
Janne nickt. »Kann ich mich auf dich verlassen?« »Ja, das kannst du. Versprochen.«
Sie reichen einander die Hände. Ein Nachteil am Dasein ohne Freundeskreis: Ab und zu bleibt nur das Vertrauen in distanzlose Krankenschwestern.
»Freunde sind die einzige Familie, die man sich aussuchen kann«, sagt Marit zum Abschied.
Am Fenster in Eriks Büro steht ein Mann. Janne bemerkt ihn nicht gleich, erst nachdem sie am Schreibtisch Platz genommen und sich den obersten Brief vom Poststapel gegriffen hat. Der schwere Din-A4-Umschlag entgleitet ihren Händen und bringt den Stapel auf dem Tisch polternd zu Fall. Auf den zweiten Blick erkennt Janne den Eindringling: Es ist Frank Hagedorn, der Kommissar. Er trägt einen marineblauen Wollpullover und weder Mantel noch Jacke. Seine Haltung hat etwas angestrengt Diszipliniertes. Was hat der hier zu suchen? Und wo steckt Gabi Bremer?
Er begrüßt sie mit kühler Stimme, die Augen stur aufs Meer gerichtet. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ihr Schweißermeister war so freundlich, mich direkt hier auf Sie warten zu lassen, da das Sekretariat heute nicht besetzt ist, wie er sagte.«
Janne versucht, sich ihre Empörung nicht anmerken zu lassen. »Sie hätten telefonisch einen Termin ausmachen sollen, dann hätte ich Sie nicht warten lassen.«
»Oh, das Bedürfnis, mit Ihnen zu reden, kam mir spontan. Natürlich hätte ich Sie auch vorladen können.«
Ein Profilneurotiker. Janne stellt sich neben Hagedorn ans Fenster. Er will reden, also soll er den Anfang machen.
»Schöne Aussicht«, sagt er. »Die Schiffe, der Fluss, das Meer -davon können wir im Präsidium nur träumen.«
Es ist ein trüber Tag, das Wasser in der Elbmündung hat die Farbe von Schlamm, und Schiffe sind keine unterwegs. Graubraune Unendlichkeit. Janne betrachtet den Kommissar von der Seite. Jede Geste, jedes Wort, sein gesamter Auftritt ist darauf angelegt, sie zu provozieren. Sie schweigt beharrlich, aber ihr Herz schlägt so heftig, dass sie befürchtet, er könnte es hören.
»Muss eine ziemliche Umstellung gewesen sein. Von den zweiten Geigen zur Firmenchefin.«
»Ich nehme an, dass jeder Mordfall für die Hinterbliebenen eine ziemliche Umstellung mit sich bringt«, erwidert Janne.
Hagedorn nickt. »Da haben Sie vollkommen recht. Und oft finden wir den Schlüssel zum Motiv, wenn wir uns diese Veränderungen anschauen. Wer profitiert vom Tod des Opfers? Diese Frage stellt sich immer wieder aufs Neue.«
Janne verkrampft. Seine Andeutung war unmissverständlich. Hagedorn hält sie für die große Gewinnerin in diesem Scheißspiel.
»Wo waren Sie an dem Abend, als Ihr Bruder starb?« Er wendet sich ihr zu, einen harten Zug um den Mund.
Janne braucht eine kleine Ewigkeit, um die Frage zu verarbeiten. Hagedorns Blick haftet auf ihr. Sie weicht ihm aus, betrachtet die Schultern des Kommissars. Ein breites Kreuz, durchtrainiert. Auf dem Pulloverkragen entdeckt sie Schuppen.
Wo war sie, als Erik starb? Und wieso hat sie sich das nie selbst gefragt? Was hat sie beschäftigt, während er ums Überleben kämpfte?
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