Blaufeuer
lässt sie aber sogleich wieder sinken, um die Richtung auszumachen, aus der die Musik kommt. Das Lied bricht ab. Sie springt auf. Die Promenade ist leer, ebenso Straße und Fußweg auf der anderen Seite des Deichs. In Birgers Wohnblock schlägt die Haustür zu, sie sieht noch den Schatten einer dunkel gekleideten Gestalt im Innern verschwinden. Hinter vielen Fenstern brennt Licht, ganz oben steht eine Balkontür weit offen, die Verglasung ist zur Seite geschoben, aber es dringt kein Laut aus der Wohnung. Nicht mehr?
Janne zittert. Und wenn es Einbildung war wie Eriks Schreie im Watt? So oder so - die Bedrohung ist real. Womöglich waren bereits die Unfälle in der Werft Versuche, sie aus dem Weg zu räumen oder wenigstens in die Flucht zu schlagen. Was nicht gelingen wird. Denn sie hat nicht vor, ihrer Angst nachzugeben.
PAUL
Es ist die Hölle auf Erden. Er ist wach, hellwach, aber keiner bemerkt es. Nichts als Dilettanten um ihn herum, unfähig, ihre teuren Instrumente abzulesen. Irgendeine dieser Apparaturen, die unentwegt peinigende Töne im Hochfrequenzbereich produzieren, muss doch anzeigen, dass dieser Patient ausder Welt der Halbtoten zurückgekehrt ist und jemanden braucht, der ihm die Tür öffnet. Aber nichts dergleichen geschieht. Nicht nur die Geräusche um ihn herum bereiten ihm Schmerzen, auch das Licht. Grelle Farben, die durch seine geschlossenen Lider dringen. Wenn nicht bald etwas geschieht, wird ihn die Unfähigkeit, Kontakt aufzunehmen, in den Wahnsinn treiben.
Paul Flecker sehnt sich nach Berührung. Viktoria ist in der Nähe, er erkennt ihre Stimme. Ein feindseliger Unterton. Warum hält sie nicht seine Hand? Und was redet sie da? Schließlich gelingt es ihm, sich auf ihre Worte zu konzentrieren. Sie liest etwas vor. Lauter Genesungswünsche von allen möglichen Leuten. Sogar ein Enkelsohn der Familie Krüss hat eine Karte geschickt -erstaunlich. Wohnt der nicht in Dänemark? Den Alten hat er gut gekannt: Albert Krüss. Ein Mann wie eine Festung. Wie hat er den Werftbesitzer verehrt, auch dann noch, als der seine Bewerbung um eine Lehrstelle mit schallendem Gelächter quittiert hat.
»Eine schlesische Landratte will Boote bauen? So weit kommt das noch. Zur Hölle mit dir, Junge, such dir eine Arbeit, die zu dir passt.«
Aber Paul Flecker hat sich noch nie mit einem Nein begnügt. Wer ihn zurückweisen wollte, musste sich wiederholen, und zwar so oft, bis das Wort sich abgenutzt hatte und ebenso gut das Gegenteil bedeuten konnte. Seine Hartnäckigkeit wurde auch in diesem Fall belohnt, und im August 1955 konnte er nach neun Jahren Volksschule bei Krüss-Boote seine Lehre antreten. Ein Freudentag.
Anfangs lief es großartig zwischen ihm und dem Meister, der ihn Nauke nannte, so heißen auf See die Matrosen, die am wenigsten zu melden haben und die dreckigsten und gefährlichsten Arbeiten übernehmen müssen. Paul gefiel das. Er machte sich gern schmutzig und schreckte vor keiner Gefahr zurück. Dass ernach drei Lehrjahren als Geselle bei Krüss bleiben durfte, war dann bereits eine Selbstverständlichkeit, die per Handschlag besiegelt wurde. Was den Alten nicht daran hinderte, seinen besten Gesellen kurz vor der Meisterprüfung auf die Straße zu setzen. Wegen einer harmlosen Frauengeschichte. Na ja, es ging um Krüss' eigene Frau, seine dritte wohlgemerkt: direkt aus Haiti eingeflogen, absolut unwiderstehlich.
Er weiß noch, wie er Krüss gedroht hat, als sie im Streit auseinander gingen: »Wir sehen uns wieder, verlass dich drauf. Ich mach dich fertig.«
Und wie gewöhnlich hielt er Wort.
Zehn Jahre später saßen sie bei Johnny Ritscher im Hinterzimmer zusammen und führten zähe Verkaufsverhandlungen. Krüss-Boote war am Ende, die Haitianerin über die Meere auf und davon. Pauls erste Offerte für die Weft lag einige Monate zurück und war auf Ablehnung gestoßen. Jetzt wollte er die Festung schleifen.
»Dein Angebot ist nicht akzeptabel, Paul.«
»Ich weiß. Ich ziehe es zurück und biete die Hälfte.«
Krüss packte ihn am Kragen: »Du bist ein Satan, Flecker, ein elender Hurensohn.«
Der Alte hatte seit ihrer letzten Begegnung schwer abgebaut. Paul Flecker weiß noch, dass er stank wie ein Mann, dem zu Hause keine Frau sagt, wann es Zeit ist, die Socken zu wechseln.
Der Streit ging weiter: »Du hast den Laden runtergewirt-schaftet, weil du unbedingt Fischkutter bauen wolltest, die kein Mensch mehr braucht. Und jetzt? Alles marode. Die guten Leute wurden
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