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Blaufeuer

Titel: Blaufeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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Fenster auf seiner Seite ebenfalls, Durchzug entsteht. Die Luft riecht mehr nach Elbe als nach Nordsee. Ablaufendes Wasser.
    »Es liegt auch an Paul. Der provoziert die Leute. Immer mit dem Kopf durch die Wand. Dass der unbedingt Bootsbauer werden wollte, obwohl er nichts davon verstand. Es gibt Fähigkeiten, die kriegst du in die Wiege gelegt. Ausbildung ist ja gut und schön, aber ob ein Schiff im Sturm schwimmt oder untergeht, muss man im Gefühl haben. Darum geht es in unserem Beruf:das Meer zu achten und, wenn es sein muss, zu überlisten«, sagt Birger.
    »Und dieses Gefühl hat mein Vater nicht?« »Nein. Dafür ist er ein guter Kaufmann.« »Aber du hast es?« Birger nickt.
    »Und Erik hatte es auch?«
    »Und wie. Aber der war ja auch zur Hälfte ein Conradi. Sein Großvater war Kapitän auf großer Fahrt, und sein Urgroßvater hat vor Grönland Wale gefangen.«
    »Und ich?«, fragt Janne, obwohl sie die Antwort ahnt. »Werde ich das Meer überlisten?«
    »Die Chancen stehen schlecht«, sagt Birger Harms nach kurzer Überlegung.
     
    Nachdem er im Haus verschwunden ist, fährt Janne nicht los, sondern steigt aus und stapft den Deich hinauf. Ihre Hosenbeine flattern im nasskalten Wind. Dünne Baumwollfasern. Als wäre sie nackt. Sie ist neidisch auf Erik. Ein irrsinniger Neid, der den Seefahrergenen in seinem Erbgut gilt. Wegen ihrer schlesischen Vorfahren fühlt sie sich der eigenen Heimat plötzlich zwangsentfremdet. Wäre Oskar Sayer tatsächlich ihr Erzeuger gewesen, hätte sie wenigstens eine Helgoländerin zur Großmutter.
    Janne steht auf der Deichkrone, Hände in den Hosentaschen, salzige Feuchte im Gesicht, und bangt um sich. Neid ist ein Gefühl, das sie - von harmlosen Ausnahmen abgesehen - bislang nicht kannte, und es erschreckt sie in seiner maßlosen Bitterkeit. Pures Gift.
    Ist Neid das Mordmotiv? Männer wie Laurens Jörgensen neiden ihrem Vater den Erfolg, doch wie weit würden sie gehen, um ihn zu schädigen?
    Janne starrt auf die entvölkerte Strandpromenade. AbgetakelteStrandcafes, verrammelte Klohäuschen. Dahinter lauert das Watt in schimmernder Finsternis, ein Schwarz wie lackiert.
    Hätte sie jemanden töten wollen, um sich die Flecker-Werft anzueignen, wäre ihre Wahl auf Erik gefallen. Er verkörperte die Zukunft, der Verlust seiner Schaffenskraft hat die Firma dramatisch geschwächt - wie jeder neue Tag beweist. Und mit dem Tod des Sohnes konnte man auch dem Vater einen so schweren Schlag versetzen, dass er als Konkurrent quasi keine Rolle mehr spielt.
    Ist am Ende doch derjenige in die Falle getappt, für den sie bestimmt war? Falls ja, woher wusste der Mörder von Eriks Vorsatz, zur Austernzucht zu fahren, obwohl es nicht zu seinen Aufgaben gehörte? Und wieso wurde die Tat auf so grausame Art begangen, warum kein schneller Tod? Wie es geschah, spricht ihrer Meinung nach eher für etwas Persönliches, eine besonders feige Variante, lang gehegten Hass auszuleben. Sie denkt an ihr letztes Zusammentreffen mit Hagedorn und hofft, dass sein Besuch wirklich nur Routine gewesen ist.
    Gleichmäßige Schritte. Vom Kap kommend, läuft ein Mann die Strandpromenade entlang, ein Jogger. Er trägt dunkle Trainingskleidung und hat die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Janne erstarrt: der Reiter. Das ist er, ganz sicher, der Mann aus dem Watt. Oder nicht? Als er näher kommt, beschleichen sie Zweifel. Reicht die Kapuze als Indiz?
    »Kennen wir uns nicht?«, ruft sie ihm zu. Sie ist entschlossen, mutig zu sein, doch sie erhält keine Antwort, nicht einmal eine Reaktion in Form einer Geste. Frierend blickt sie ihm nach. Die Statur des Rückens passt, ja, es könnte der Reiter sein. Andererseits: Warum sollte ein Jogger bei diesem Wetter nicht seinen Kopf schützen? Ihre Beine geben nach, sie muss sich setzen. Auf einer Bank kämpft sie darum, wieder zu Kräften zu kommen, sich zu beschwichtigen, umhüllt vom säuerlichen Geruch ihrerAngst. Sie ist bereit zum Aufstehen, da hört sie die Musik. Geigenmusik. Nicht besonders laut, aber laut genug für sie.
    Janne stockt der Atem. Es ist nicht irgendeine Geige, deren Klang sich in das Flüstern des abflauenden Windes mischt, es ist ihre eigene, und sie selbst ist diejenige, die darauf das Ave-Maria für Erik spielt. Eine Aufzeichnung von der Trauerfeier: die abgerutschte E-Saite, ihre beengten Bogenbewegungen, die Akustik der Kapelle - alles ist deutlich zu hören.
    »O Gott.« Janne kneift die Augen zusammen, presst instinktiv die Hände auf die Ohren,

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