Blaulicht
aufgesucht – zum Erwerb eines Fan-Anfängersets aus zwei Flaschen Spalter hell und einer Tüte Erdnussflips. Wenn es ein paar tausend Leuten gelingt, ihren Alltag hinter sich zu lassen und im Fußballtaumel auf der Straße herumzuhüpfen, sollte sie doch zumindest abschalten können. Dumm nur, dass das Match Deutschland – Argentinien offenbar für einen erhöhten Verbrauch an Getränken und Knabberzeug gesorgt hat – der Supermarkt war voller Leute gewesen, die für das Spiel Spanien – Paraguay um 20 Uhr 30 ihre Vorräte aufstocken mussten.
Komm doch nach, wir freuen uns! Sollte sie eigentlich tun, überlegt Zoe. Man braucht Menschen, die einen mitreißen. Den Samstagabend allein in einer unaufgeräumten Wohngemeinschaftsküche zu verbringen, bringt die Stimmung bloß noch mehr in den Keller. Aber sie verspürt keine Lust, unter Menschen zu gehen, die ihr bei jedem Gedanken an die erstarrte Sandra Kovács nur als zappelnde Marionetten erscheinen würden.
Zoe räumt sich eine Ecke am Küchentisch frei und nimmt eine der beiden Bierflaschen wieder aus dem Gefrierfach.
Bevor ein Stern stirbt, bläht er sich zu einem Roten Riesen auf, um dann in sich selbst zu stürzen und als Schwarzer Zwerg durch das Weltall zu trudeln, eine erloschene Sonne, die alles in den Strudel ihrer ungeheuren Schwerkraft reißt. Sind denn Kascha und sie selbst zu Planeten geworden, die sich im Sog des toten Sterns Sandra Kovács befinden? Gedankenverloren sitzt Zoe am Tisch, trinkt Bier und stopft Erdnussflips in sich hinein, dabei hat das Match Spanien – Paraguay noch nicht einmal begonnen. Manche Leben brennen langsam und gleichmäßig achtzig Jahre lang, andere werden schon in den ersten Jahren von zu heftig lodernden Flammen aufgezehrt und erlöschen mit spätestens dreißig, warum? Gibt es irgendwen oder irgendetwas, das für die vielen verschiedenen Schicksale verantwortlich ist? Eine Art überirdischen Hütchenspieler, der eine Kugel abdeckt, die Hütchen in rasender Geschwindigkeit verschiebt, sie an anderer Stelle wieder auftauchen und wieder verschwinden lässt? Auftauchen, verschwinden, auftauchen, verschwinden, und am Ende gewinnt immer der Spielmacher, während alle anderen alles verlieren.
Das Mobiltelefon ruft sie aus dem Sumpf, in den sie sich hineingedacht hat. Was für eine dämliche Idee, Auf der Reeperbahn nachts um halb eins als Rufton zu programmieren. Zoe spürt galligen Neid auf die Fernsehermittler, die garantiert eine Menge Spaß haben bei ihren Tatort -Drehs in Münster und danach in beliebige andere Rollen schlüpfen können.
*
Kascha hatte sich ehrlich über Gloßners Anruf gefreut, mehr noch, sie hatte ihn mit den Worten begrüßt:
»Mensch, Gloßner, dich schickt der Himmel!«
Über eine halbe Stunde lang hatte sie dann versucht, ihm den Fall in allen Einzelheiten mit all seinen Fragezeichen und in all seiner Verzwicktheit zu schildern. Hatte ihm von der neuen Kollegin im K1 erzählt, die nicht nur fähig, sondern ausgesprochen fit sei und einige sehr interessante Details recherchiert hätte, und auch die Auseinandersetzung mit Mattusch blieb nicht unerwähnt. Dann hatte sie von all ihren Sorgen und Befürchtungen erzählt, von Sandra Kovács und deren schwer gestörtem, ja pathologischem Verhältnis oder besser gesagt Nicht-Verhältnis zu ihrem Lehrer. Dabei selbstverständlich auch nicht vergessen, den Brief zu erwähnen, diesen merkwürdigen Brief, zwischen dessen Zeilen sie eine eindeutige Botschaft zu lesen vermeinte, »aber verdammt, Siegfried, vielleicht hat der Mattusch ja recht und ich beginne tatsächlich langsam Gespenster zu sehen. Weißt du was? Ich würde diesen ganzen Fall am liebsten abgeben und sofort wieder nach Lindau rauskommen. Bier trinken, Beine hoch, abschalten.«
Gloßner hatte die ganze Zeit über kaum etwas gesagt, seinen Anteil am Telefongespräch vielmehr auf gelegentliche Grunzer beschränkt, damit Kascha am anderen Ende wenigstens so etwas Ähnliches wie menschliche Nähe spüren konnte. Jetzt meldet er sich zum ersten Mal wieder zu Wort.
»Wir wissen beide, dass du das nie im Leben tun würdest, Frau Dr. Halbritter, oder? Aber du hast recht, du steckst in einem ziemlichen Schlamassel, und wenn ich nicht wüsste, dass du momentan vollkommen humorresistent bist, würde ich dir von meinem Klöppelversuch erzählen, den ich vor einigen Jahren einmal mit einem ähnlichen Gefühl abgebrochen habe, wie du es gerade in der Bauchgegend haben
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