Blaulicht
zum Liegen, zündet sich die dritte Zigarette en suite an und starrt an die Decke.
»Ich hab heute schon so viel geredet.«
»Du hast mich hergebeten.«
Eine Weile hört man nichts außer dem Rauschen der Pegnitz am nahen Wehr und dem Fußballjubel, der seinen Höhepunkt noch lange nicht erreicht hat.
»Ich glaub, ich war heute kurz davor, sie zu knacken. Letzte Nacht war mir ein Bild gekommen. Vielleicht war es auch ein Satz: ›Sie ist eine lebendig Begrabene‹. Das hat ganz merkwürdige Dinge in mir ausgelöst. Als Kind hatte ich eine längere Phase, in der mir immer wieder die Angst kam, ich könnte für tot gehalten und lebendig begraben werden. Daran hab ich mich wieder erinnert, und ich hab beschlossen, ihr das zu erzählen. Damit wären wir auch gleich beim dyadischen Effekt. Der kommt zustande, wenn du die Rollen für eine Weile umkehrst. Das heißt, du als Therapeut gibst etwas Intimes über dich preis, um deinen Patienten dazu zu bewegen, dass auch er dir etwas anvertraut. Also habe ich das Mädchen förmlich zugetextet. Mit allem, was mir an Assoziationen über mich und meine Angst und über das Lebendigbegrabenwerden gekommen ist. Ab einem bestimmten Punkt ist zum ersten Mal die Totenmaske von ihr abgefallen und sie hat Rotz und Wasser geheult. Sie hat sogar zum ersten Mal Worte von sich gegeben. Und da sah ich eine gewisse Chance, sie weichzukriegen übers Wochenende.«
»Auf was genau hat sie reagiert? Und wie?« Mattusch sitzt jetzt weit vornübergebeugt im Sessel.
»Sie hat ganz merkwürdige Äußerungen von sich gegeben. Manches kannst du erst verstehen, wenn du dir die Aufzeichnung drei-, viermal anhörst.«
»Hast du sie hier?«
»Zoe hat sie momentan. Das Problem ist, dass wir vieles nicht wissen. Wir wissen nicht, ob es vielleicht auch andere Personen gibt, auf die sie ähnlich reagieren würde. Wir wissen auch nicht, was mit Sandra Kovács in den vergangenen drei Jahren geschehen ist – sie hatte garantiert noch mehr zu verkraften als den Tod ihres Freundes.«
»In was für eine Richtung denkst du?«
»Wenn du dich mit traumatischen Störungen beschäftigst, landest du unweigerlich bei allen Scheußlichkeiten, die Menschen zustoßen können. Denk an Rettungssanitäter, die zu einem Eisenbahnunglück oder zu einer Massenkarambolage gerufen werden und mit Hunderten von verstümmelten Toten und Schwerverletzten konfrontiert sind. Obwohl sie regelmäßig mit Unfallopfern zu tun haben, kann das Auswirkungen auf sie haben, mit denen manche von ihnen ihr Leben lang nicht fertig werden. Dabei waren sie nicht einmal unmittelbare Zeugen des Augenblicks, in dem es geschah; sie haben keine Beziehung zu den Opfern, die sie bergen; und sie sind auch nicht mit einem Täter konfrontiert, dem sie ohnmächtig gegenüberstehen. Damit sind wir bei den Scheußlichkeiten, die Menschen an anderen Menschen verüben können, und die ein anderer Mensch – in Anführungszeichen – ›nur‹ miterlebt haben muss, um für sein Leben traumatisiert zu sein. Diese Traumatisierten müssen gar nicht unbedingt auffällig sein. Da draußen laufen Siebzigjährige herum, die mitansehen mussten, wie noch im April 1945 ihr Vater von fanatischen Nazis als Wehrkraftzersetzer öffentlich gehängt wurde. Die können nach außen hin ihr Leben irgendwie absolviert haben, aber innerlich haben sie sich ab dem Zeitpunkt vor der Welt in eine schizoide Blase zurückgezogen. Das sind dann die Todesfälle, von denen man in der Zeitung liest – wo jemand so lange tot in seiner Wohnung herumgelegen ist, bis ein Nachbar einen merkwürdigen Geruch bemerkt und die Polizei verständigt hat. Und dann stellt man fest, komisch, keine Angehörigen, keine Freunde oder Bekannte. Zu den Nachbarn immer freundlich ›Grüß Gott‹ gesagt, aber jeden näheren Kontakt vermieden. – Andere Menschen sind angesichts von Grausamkeiten, die im Krieg oder in der Nachkriegszeit an ihren Kindern, Eltern oder Ehepartnern verübt wurden, wahnsinnig geworden oder haben das Gedächtnis verloren. Da gibt es Fälle, wo Männer vor den Augen ihrer Frauen zu Tode geprügelt wurden, oder wo –«
»Kascha, ich versteh schon, was du mir sagen willst.« Dem Mattusch kommt der Biergarten, in dem er den Nachmittag verbrachte, mittlerweile vor wie die Erinnerung an ein anderes Leben. »Sandra Kovács macht auf dich den Eindruck, als hätte sie etwas Grausames erlebt, aber du weißt nicht, was.«
»Richtig. Und so, wie meine bisherigen drei Besuche bei ihr verlaufen
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