Blaulicht
ein Teenager sich zum Abendessen verspätet, kann er keine Fahndung rausschicken, auch er war schließlich an bestimmte Richtlinien gebunden. Die beiden Frauen waren übereingekommen, dass es nur eine Person gab, die jetzt noch helfen konnte. Wobei dies ein mehr als funzeliger Hoffnungsschimmer war, aber vielleicht würden sie aus Sandra doch noch irgendetwas Hilfreiches herausbringen, wenn diese von ihrer Schwester und Gerlach erführe.
Kascha hatte sich dann aufgemacht, um Zoe abzuholen und auf der Fahrt ins Klinikum von ihr alle Details ihrer Rechercheodyssee zu erfahren. Bevor sie auflegte, hatte sie der Ermittlerin noch die Handynummer von Gloßner gegeben und sie gebeten, ihm ebenfalls zusammenzufassen, was in irgendeiner Form auf Tschechien hindeutete, auch wenn es nur winzige Anhaltspunkte waren und das Ganze letztlich auf eine vage Vermutung hinauslief. Fünfundzwanzig Minuten später saß Zoe neben der Psychologin und berichtete Punkt für Punkt, was nach dem Anruf der Kovács passiert war.
Sie hatte sich natürlich erst einmal umgehend mit der Ballettschule in Verbindung gesetzt. Unerwartet schnell hatte sich dort eine resolute Stimme mit: »Ballettstudio Piqué, Tolnay.« gemeldet.
»Kripo Nürnberg, Kandeloros. Ich rufe an wegen Leonie Kovács – die wurde heute während der Probe abgeholt?«
»Ja. Warum?«
»Reine Routine. Die Mutter hat uns angerufen und macht sich Sorgen, weil Leonie noch nicht zu Hause ist. Wer hat sie denn abgeholt? Kannten Sie die Person?«
»Leonie kannte den Herrn jedenfalls sehr gut. Vielleicht ein Onkel.«
Zoe hatte selbstverständlich auch die Frage gestellt, die zu beantworten erfahrungsgemäß den meisten Zeugen nicht leicht fällt.
»Können Sie ihn mir beschreiben?«
Die Antwort war sowohl prompt als auch ausgesprochen präzise gekommen. Die Ballettlehrerin verfügte offensichtlich über einen außerordentlich geschulten Blick.
»Groß, schlank, kräftig, etwa Mitte vierzig. Ausgeprägt hohe Stirn, dunkle Augen.«
»Brille?«
»Brille, ja. Und außerdem –«
»Besondere Merkmale?«
»Wenn Sie mich nicht dauernd unterbrechen würden, könnte ich Ihnen besser Auskunft geben. Der Herr hatte einen Verband um den Hals. Aber wahrscheinlich kein Schleudertrauma, da sehen die Verbände anders aus, hatte ich selber schon mal.«
»Wann hat dieser Mann Leonie abgeholt?«
Dies war eine Frage, bei der die meisten Zeugen passen. Etwas anderes als ›es muss so um so-und-so-viel-Uhr gewesen sein‹ oder ›na ja, die Tagesschau war schon vorbei, aber wie weit der Tatort dann schon war …‹ bekommt man selten zu hören. Nicht so bei dieser Zeugin, die über eine eingebaute Stoppuhr zu verfügen schien.
»Wir haben um Punkt 17 Uhr wie geplant die Generalprobe an Schumanns Kinderszenen begonnen. Dieser Herr ist mitten in den ersten Teil geplatzt. Der, in dem der Lehrer gerade erwacht und sich traumtrunken reckt und streckt – Plié, Cambré, Pas de Bourrée; Plié, Cambré, Grand Tour-de-Ja-am-be; und –«
Zoe hatte die Frau unterbrochen, sie verstand nichts von dem, was sie ihr damit sagen wollte.
»Sie wollten mir sagen, wann genau der Mann Ihre Probe unterbrochen hat, um Leonie abzuholen!«
Daraufhin war am anderen Ende erst einmal Schweigen und empörtes Atmen zu hören. Zoe war es so vorgekommen, als läge in dieser vorwurfsvollen Stille all das Unverständnis über eine Welt, die der Musik Schumanns und all der anderen grandiosen Komponisten so rabiat gegenübersteht, so banal ist, so banal fragt. Dabei hatte sich Zoe in diesem Augenblick alles andere als banal gefühlt. Ganz im Gegenteil, sie war derartig geladen, dass sie in den Telefonhörer hätte beißen wollen.
»Die Uhrzeit, Frau Tolnay. Können Sie mir die Uhrzeit sagen, zu der der Mann Ihre Probe unterbrochen hat?«
»Ich war gerade dabei. Es war, wie ich schon sagte, nach der ersten Grand Tour de Jambe, also exakt eine Minute und 24 Sekunden nach 17 Uhr, als die Probe unterbrochen wurde und der Rest kaum noch zu realisieren war, weil Leonie, die eine wichtige Rolle in den Kinderszenen tanzt, und von daher nicht so einfach zu ersetz …«
Zoe hatte den künstlerischen Zorn der Dame brüsk unterbrochen und sich für die wichtigen Informationen bedankt, anschließend mit fliegenden Fingern gewählt.
Rote Taste, Kovács’ Nummer, grüne Taste.
Leonie war immer noch nicht zu Hause und die Kovács hatte mit hysterischer Wut auf die Nachricht reagiert, dass ihre Tochter offenbar von ihrem
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