Blaulicht
gigantischen Medienspektakels.
Zwischen der Pförtnerloge am Eingang und vorbei an der Mammutbaustelle für den neuen Schöllerbau rechter Hand bis hin zur Station 39 E begegnet den beiden Frauen keine Menschenseele – das Klinikgelände wirkt vollkommen ausgestorben oder in einem tiefen Dornröschenschlaf gefangen. Auch auf der Station selbst ist es vergleichsweise ruhig. Nur im hinteren Trakt, dort, wo die Schnapsleichen untergebracht werden, wird geschrien, gelallt, gepöbelt – sportbedingte Ausnahmezustände sorgen auch in der Toxikologie für eine ganz eigene Hochsaison. Der Beamte vor Sandras Zimmertür schaut leicht genervt auf Zoes Ausweis, offenbar nimmt er es ihr persönlich übel, das 4:0 Deutschland – Argentinien nicht im Biergarten erlebt zu haben.
Sandra ist nicht mehr ans Bett fixiert, steht aber offensichtlich immer noch unter der Wirkung von Beruhigungsmitteln. Doch selbst hinter dieser dichten Nebelwand kann man die Panik, die rasende, ohnmächtige Angst kauern sehen. Es ist ein Risiko, dieses Tier zu reizen. Das weiß Kascha ganz genau, aber mal ehrlich – welche Wahl hat sie? Das einzige, was sie tun konnte, war, den diensthabenden Stationsarzt vorzuwarnen, ihn zu bitten, sich bereitzuhalten, falls ihr Versuch die befürchtete Wirkung hat. Und natürlich versucht sie, ihre Stimme so neutral, so unbefangen wie möglich klingen zu lassen, jede Spur von Aufgeregtheit oder Sorge darin zu unterdrücken. Und trotzdem reagiert Sandra, als hätte man ihr einen Stromschlag verpasst.
Leonie ist bei Gerlach! Leonie ist bei Gerlach!
»Nein! Bitte nicht!«
Immer wieder nur diese drei Worte. »Nein! Bitte nicht!« Herausgeschrien, herausgebrochen, herausgeschluchzt. Das schwarze Tier Angst ist durch die Nebelwand gesprungen, hat sich in Sandra verbissen, schleudert ihren Körper herum, bedeckt ihn mit salzigem Geifer, bringt ihn zum Beben, zum Zucken, verzerrt ihr bleiches Gesicht zu einer grotesken Fratze.
»Sandra, Kind, du musst dich beruhigen, wenn du deiner Schwester helfen willst!«
Wer spricht da, woher kommt die Stimme?
»Sandra, wo kann er sie hingebracht haben? Warst du dort auch schon einmal?«
Nein, bitte, bitte nicht!
»Du kannst ihr helfen, wenn du dich erinnerst. Gibt es irgendetwas, woran du dich erinnerst?«
»Weiß«, dringt es gepresst unter dem schweren Körper des Tiers heraus, »weiß, so viel weiß! Und alles voll Scherben.«
»Sandra, wo hast du die Scherben gesehen? War das bei dem blauen Licht?«
Das Tier hat ihren Kopf in den Fängen und schleudert ihn herum, spielt damit wie die Katze mit dem Gummiball.
»Sandra, was ist das blaue Licht?«
Das blaue Licht, das war in der Nacht. Es hat blau geleuchtet im Schwarz. Es war ein Tier. Ein Traumtier, ein blau leuchtendes Traumtier.
»Sandra, ich kann dich nicht verstehen. Was hast du gesagt?«
»Ich hab …«
»Du hast?«
»Ich … ich hab … geschlafen … und dann … war da das blaue Tier … es hat … es leuchtet!«
»Was für ein blaues Tier, Sandra? Wo hast du es gesehen?«
»Geflogen.«
»Das blaue Tier ist geflogen?«
Kascha gibt Zoe ein Zeichen, den Notrufknopf zu betätigen, das Zeichen für den Stationsarzt zu kommen. Noch ein Versuch, eine letzte Chance.
»Sandra, was war das für ein Tier?«
Die Angst beißt ins Fleisch, krallt sich darin fest, reißt Stücke heraus, die Stücke formen sich zu einem Klumpen. Ein Bauch, zwei Beine, Arme, lange Arme, ein Kopf, ein Gesicht. Grinsgesicht, blaues Grinsgesicht.
»Sandra – das blaue Tier, erinnere dich!«
»Affe, Affe!« schreit es aus ihr heraus, dann sinkt sie zurück in den dichten Nebel, kaum, dass der Arzt den gnädigen Schlaf des Vergessens in den Tropf gespritzt hat.
*
»Der Mensch ist eine Komposition. Jedes menschliche Leben ist eine göttliche Komposition! Nur sind die wenigsten Menschen fähig, die Komposition, die sie sind, erklingen zu lassen. Die Menschen leben, wie ein Anfänger ein Instrument spielt. Falsche Töne, wacklige Rhythmen. Dabei muss man doch wissen, wer man ist! Man muss die eigene Komposition, die Komposition, die man ist, dechiffrieren und begreifen. Die Komposition ist das Ideal. Die Interpretation kann nie das Ideal erfüllen. Aber man muss es versuchen! Man muss es ver-su-chen!«
*
»Kannst du irgendetwas mit einem blauen Affen anfangen, Gloßner?« hatte Kascha aus seinem Handy gebrüllt, weil es laut war auf der Terrasse vom Haberl, und nein, er konnte nicht, außer, dass er spontan an das
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