Blaulicht
sich aufmachte, um neue Welten zu entdecken.
Jetzt radelt sie die Gostenhofer Hauptstraße hinunter, gerade so, als würde sie nach dem Dienst in die Mädels-WG, ihr neues Übergangszuhause in der Bauerngasse, radeln. Ihr Vater hatte ziemlich sauer reagiert, als sie ihren Eltern ihre Wohnpläne eröffnete: »Wieso willst du nicht bei uns wohnen, bis du eine eigene Wohnung gefunden hast? Was sollen die Verwandten denken? Wie kannst du deiner Mutter so etwas antun?« Doch im Gegensatz zu ihrem Mann fand Zoes Mutter die Idee mit der Wohngemeinschaft völlig in Ordnung und konnte gut verstehen, dass sich eine junge Frau nach Selbstständigkeit sehnt.
Diese Szene war Zoe unwillkürlich in den Kopf geschossen, als sie mit der Mutter von Heike Harms telefonierte. »Sicher wohnt Heike noch bei uns«, hatte diese auf ihre Frage geantwortet, als sei das die normalste Sache der Welt. Ist es vielleicht ja auch, wenn man bedenkt, dass Heike erst neunzehn ist. Als Zoe ihr dann zum ersten Mal gegenübersteht, kann sie nicht einmal das glauben – die pausbäckige junge Frau strahlt auf den ersten Blick die kindliche Unberührtheit einer Protagonistin in einem dieser altmodischen schwedischen Kinderfilme aus, wirkt wie eine, die von morgens bis abends auf Bäume klettert, Briefträgern lustige kleine Streiche spielt und einen zotteligen Bobtail zum Freund hat. Die hohen Regale voller Bücher wollen so überhaupt nicht zu ihr passen – genauso wenig eine beste Freundin wie Sandra Kovács. Außerdem bemerkt Zoe, dass Heikes Kinn ganz leicht zittert, so als sei ein Deich kurz vorm Brechen.
Die Chefin der Gostenhofer Buchhandlung hatte nichts dagegen, ihrer Auszubildenden eine Pause zu gestatten, »im Sommer läuft der Buchverkauf schleppend, es ist eine Katastrophe!«, und deshalb sitzen die beiden jetzt im Schatten einer mächtigen Linde auf einer Bank vor der Dreieinigkeitskirche.
»Weißt du, was passiert ist?«
Heike nickt und streicht sich mit der Rechten ein paar helle Ponyfransen aus dem Gesicht. Obwohl hier die Vögel zwitschern, ein leichter Wind durch die Blätter der Kastanie geht und – witziger Zufall – eben ein junger Mann in T-Shirt mit einem zotteligen Bobtail über die Adam-Klein-Straße spaziert, wirkt sie jetzt ganz und gar nicht mehr so unbeschwert wie ein Kind aus Bullerbü. Ja, sie weiß, was passiert ist, ihre Mutter hatte im Geschäft angerufen, gleich nachdem ihr die Schlagzeile in der Bild-Zeitung ins Auge gesprungen war.
»Kannst du dir vorstellen, warum Sandra das gemacht hat?«
»Wie geht es Sandra?« Zoe bemerkt das heftige Ruckeln in Heikes Stimme, weiß, dass der Deich gleich bricht: erst der Atem, dann die Schultern, und schon kullern die Tränen wie kleine Sturzbäche über ein Feld aus Sommersprossen, sammeln sich kurz unter dem Kinn und tropfen schließlich auf eine himmelblaue Bluse. Instinktiv nimmt sie Heike in den Arm, reicht ihr ein Tempo aus ihrer Handtasche und wartet, bis sie sich wieder halbwegs beruhigt hat.
»Sandra geht es den Umständen entsprechend und sie ist in guten Händen, du musst dir keine Sorgen um sie machen. Aber sie redet nicht mit uns, deshalb habe ich gehofft, dass du uns weiterhelfen kannst. Ist es in Ordnung, wenn ich du sage?«
Heike nickt und schnäuzt sich die Nase. Nein, sie kann sich nicht vorstellen, warum Sandra das getan hat. Sie wusste nicht einmal, dass sie vorhatte, nach Nürnberg zu kommen, »wo sie doch«, sie stockt, schnieft, stiert auf das zerknüllte Taschentuch in ihrer Hand.
»Wo sie doch?«
»Wo sie doch nie wieder herkommen wollte!«
Zoe zieht ein weiteres Taschentuch aus dem Päckchen und reicht es dem Häufchen Elend neben sich.
»Weshalb wollte sie denn nie wieder herkommen?«
»Da gab es so viel. Ihre Eltern, die sind wirklich die Pest. Sandra hat immer davon gesprochen, dass sie in eine dieser WGs vom Jugendamt einziehen will, um rauszukommen aus diesem Horror, aber das ging ja nicht wegen Leonie – das ist ihre kleine Schwester.«
»Aber dann ist sie doch gegangen und hat nicht nur Leonie, sondern auch dich verlassen. Warum?«
»Das war wegen Rizzo.« Heikes Stimme klingt plötzlich tonlos, windig, wie von fern.
»Rizzo?«
Der Wind hat sich gelegt. Über dem heißen Asphalt flimmert die Luft wie Wasser.
»Moritz Rißmann, Sandras Freund. Wir haben immer Rizzo zu ihm gesagt, wie dieser Kommissar aus dem Fernsehen.«
»Was war denn zwischen Sandra und Rizzo?«
Heike schließt die Augen, und unter den Lidern bahnen
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