Blaulicht
Botschaften waren das denn?«
»Wie so – ich weiß nicht – so ähnlich wie Gedichte, die jemand schreibt, der betrunken ist – oder eben irgendwas anderes genommen hat – da standen so Sachen drin wie ›nach dem erwachen begann der alptraum. nie wieder erwachen. pass auf!‹ oder ›wer starrt mich dauernd aus dem spiegel an‹ – oder so ähnlich. Eine Zeitlang hab ich mir das alles ins Tagebuch geschrieben. Aber ich konnte damit nichts anfangen – es hat mir Angst gemacht!«
»Und du hast mit niemandem darüber gesprochen?«
Nein, natürlich hatte sie mit niemandem darüber gesprochen, sie hatte es Sandra doch versprechen müssen. Auch jetzt weiß sie nicht, was sie verraten darf und soll, will ihrer großen Schwester helfen und weiß doch nicht auf welche Weise, ist abermals zerrissen und spürt, dass sie all das Reißen, all den Druck nicht mehr lange wird ertragen können. Die Polizistin soll gehen, soll sie in Ruhe lassen, ihre Eltern sollen sie in Ruhe lassen – alle sollen sie endlich in Ruhe lassen, sollen verschwinden, verschwinden, verschwinden! Sie würde am liebsten schreien und um sich schlagen, würde mit riesigen Sprüngen über den Platz fliegen und dabei jeden wegstoßen, der sich ihr in den Weg stellte.
»Ihr hattet also die ganze Zeit hindurch per SMS Kontakt zueinander, du und deine Schwester?« fragt Zoe sehr leise, sie spürt deutlich, dass Leonie dabei ist, sich zu verschließen. Sie hat den Kopf auf die Brust sinken lassen und die Arme eng um den Körper geschlungen, als würde sie frieren. Ihr »Nein« ist kaum zu hören.
»Ihr hattet also keinen Kontakt mehr?«
Du darfst es niemandem verraten, Leonie. Bitte, erzähl niemandem von unserem Geheimnis, versprich es mir! Sie hört die Worte in ihrem Kopf klingen, als hätte Sandra sie gerade erst ausgesprochen. Aber wie viel wiegt ein Versprechen der Schwester gegenüber, wenn diese Schwester im Krankenhaus liegt und vielleicht ins Gefängnis kommt? Was darf sie sagen, was muss sie sagen? Schlafen möchte sie, einschlafen, lang schlafen und aufwachen, wenn alles vorbei ist – alles nur ein böser Traum war, wenn Sandra wieder Sandra ist und bei ihr.
»Wir haben uns über das Forum geschrieben.«
Jetzt hat sie es der Polizistin mit der dicken Brille gesagt, und jetzt verrät sie ihr auch das ganze Geheimnis. Erzählt von dem Ballettforum im Internet, in dem sie und ihre Schwester schon lange geschrieben hatten. Erzählt auch, dass Sandra, noch bevor sie anfing, sich schwarz zu kleiden und ihr Haar zu färben, dort unter dem Nick ›Schwarzer Schwan‹ einen Account hatte, sie selbst als ›Petruschka‹ angemeldet war. Erzählt von dem letzten Mal, an dem sie Sandras Stimme gehört hatte, als die sie anrief mitten in der Nacht – aus Leipzig oder war es Dresden? Sandra war das Handy geklaut worden. Ich schreibe dir PNs über das Forum, hatte sie fast in den Hörer geschrien, im Hintergrund war laute Musik zu hören, schau ins Forum, schau ins Forum. Also hatte Leonie jeden Tag reingeschaut und gewartet, manchmal tagelang, manchmal sogar Wochen. Und immer diese Angst, die furchtbare Angst.
»Ich kann nicht mehr.«
Zoe hat die vier geflüsterten Worte kaum verstanden, aber sehr wohl begriffen, dass sie an eine Grenze gelangt ist. Nur noch eine kleine Frage, vielleicht beantwortet Leonie ihr noch diese eine Frage.
»Weißt du, wo deine Schwester sich zuletzt aufgehalten hat?«
Das zarte blonde Mädchen schaut sie mit Augen an, in deren Tiefe sich eine Verzweiflung spiegelt, die der Kommissarin einen schmerzhaften Stich ins Herz versetzt. Automatisch legt sie Leonie einen Arm um die Schultern und spürt, wie diese sich erst verkrampfen, dann aber ganz weich werden, genauso wie der ganze schmale Körper erschöpft in sich zusammensackt. Zoe streicht ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die Kleine tut ihr leid. Das Schicksal ist manchmal einfach eine gemeine Sau!
»Leonie, ich versprech dir, dass es bald vorbei ist. Vertraust du mir?«
Es dauert eine Weile, dann nickt Leonie fast unmerklich mit dem Kopf.
»Weiß du, wo Sandra zuletzt gelebt hat?«
Eine Gruppe junger Männer läuft an ihnen vorbei, alle tragen Trikots im Schwarz-Weiß der Fußballnationalmannschaft. Sie singen Schland o Schland, wir sind von dir begeistert , zwei blasen in lange Plastiktröten, es ist noch nicht lange her, dass diese Dinger hier vollkommen unbekannt waren, heute kennt jedes Kind ihren Namen: Vuvuzelas.
»P...sen.«
»Wie bitte,
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