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Bleakhouse

Bleakhouse

Titel: Bleakhouse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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bessern Erkenntnis wieder weg und sagte ihm, daß ich nur ihm das Glück verdanke, es von meiner Kindheit an bis zu dieser Stunde nie gefühlt zu haben.
    Er erhob abwehrend die Hand. Ich wußte wohl, daß man ihm nicht danken durfte, und schwieg.
    »Es sind jetzt neun Jahre her«, begann er nach einer kleinen Weile Nachdenkens, »da erhielt ich von einer in Zurückgezogenheit lebenden Dame einen Brief, der von einer finstern Leidenschaft und Kraft erfüllt war, die ihn von allen Briefen, die ich jemals gelesen, unterschied. Vielleicht war es ein unbewußter Zug der Absenderin, mir ihr Vertrauen zu schenken, vielleicht ein unbewußter Zug von mir, ihr Vertrauen zu rechtfertigen. Der Brief erzählte von einem Kind, einem Waisenmädchen, damals zwölf Jahre alt, mit ähnlich grausamen Worten wie denen, an die du dich noch erinnerst. Die Schreiberin habe, hieß es darin, das Kind von seiner Geburt an im geheimen auferzogen, alle Spuren seiner Herkunft verwischt, und wenn die Schreiberin vor Mündigwerden des Kindes stürbe, so stünde es freudlos, namenlos und ungekannt in der Welt. Der Brief forderte mich auf, mit mir zu Rate zu gehen, ob ich vollenden wollte, was sie begonnen hatte.«
    Ich hörte schweigend zu und sah ihn gespannt an.
    »Deine Jugenderinnerungen, liebes Kind, werden dir am besten sagen, in welch düsterm Licht die Schreiberin alles sah und ausdrückte, in ihrem finstern Puritanismus, der ihren Geist umwölkte, mit der grausamen Anschauung, daß ein Kind eine Schuld büßen müsse, die es nicht begangen. Ich faßte ein Interesse für das Kind und sein freudloses Leben und beantwortete den Brief.«
    Ich ergriff seine Hand und küßte sie.
    »In dem Brief stand, ich solle nie den Versuch machen, die Schreiberin, die seit langer Zeit allen Verkehr mit der Welt abgebrochen habe, zu Gesicht zu bekommen, aber sie schlüge mir vor, ich möchte ihr einen vertrauenswürdigen Vertreter nennen, mit dem sie dann verhandeln wollte. Ich bestimmte Mr. Kenge. Die Dame sagte ihm aus freien Stücken, ihr Name sei ein angenommener und sie die Tante des Kindes, wenn in solchen Fällen von Blutsverwandtschaft überhaupt die Rede sein könnte. Sie werde niemals – Mr. Kenge war von der Festigkeit ihres Entschlusses durchaus überzeugt – mehr enthüllen... So, liebes Kind, jetzt habe ich dir alles gesagt.«
    Ich hielt seine Hand eine kleine Weile in der meinen.
    »Ich sah mein Mündel öfter als sie mich«, fuhr er in einem heitereren und leichteren Ton fort, »und erfuhr immer, sie sei glücklich, häuslich und von allen geliebt. Sie vergilt mir zwanzigtausendfach, und zwanzig Mal mehr noch, jede Stunde im Tag die Kleinigkeit, die ich für sie getan habe.«
    »Und noch öfter«, sagte ich, »segnet sie den Vormund, der ihr ein Vater ist.«
    Bei dem Worte Vater sah ich den frühern sorgenvollen Ausdruck wieder auf seinem Gesichte erscheinen. Er beherrschte sich wie vorhin, und einen Augenblick später sah er drein wie gewöhnlich. Sein Mienenspiel wechselte bei meinen Worten so schnell, daß es mir vorkam, als hätte ich ihm damit weh getan. Abermals wiederholte ich mir verwundert: »Keine, die ich so leicht begreifen könnte... Keine, die ich so leicht begreifen könnte.« Ja, es war wahr. Ich begriff es nicht. Lange, lange Zeit nicht.
    »Und nun ein väterliches gute Nacht, liebes Kind«, sagte er und küßte mich auf die Stirn, »und flink zu Bett. Das sind viel zu späte Stunden zum Arbeiten und Nachdenken. Du tust das sowieso den ganzen Tag für uns, kleine Hausfrau.«
    Ich arbeitete weder, noch grübelte ich in dieser Nacht mehr. Ich schüttete mein volles Herz vor Gott aus und dankte ihm inbrünstig, daß er mich nicht verlassen, und schlummerte ein.
    Den Tag darauf hatten wir Besuch. Mr. Allan Woodcourt. Er kam, um von uns Abschied zu nehmen. Er wollte als Schiffsarzt nach China und Ostindien gehen, wie er uns schon vor einiger Zeit erzählt hatte. Er hatte vor, sehr lange Zeit abwesend zu sein.
    Ich glaube – das heißt, ich weiß es –, daß er nicht reich war. Alle Ersparnisse seiner verwitweten Mutter waren darauf verwendet worden, ihn zu seinem Beruf auszubilden. Für einen jungen Arzt mit wenig Beziehungen in London war es kein einträglicher Beruf, und obgleich er sich Tag und Nacht für eine Menge armer Leute abmühte und Wunder an Zartheit und Geschicklichkeit bei ihnen verrichtete, verdiente er doch sehr wenig Geld. Er war sieben Jahre älter als ich. Nicht, daß ich es zu erwähnen brauchte, denn

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