Bleakhouse
freuten uns beide, so lange der Tag war, und schliefen gesund die Nächte hindurch.
Einen Platz im Park von Chesney Wold, mit einer lieblichen Aussicht von einer erhöht stehenden Bank aus, hatte ich besonders gern. Die Waldung war dort gelichtet und ausgehauen, um den Ausblick zu verschönern, und die helle sonnige Landschaft dahinter schimmerte so wundervoll in der Ferne, daß ich wenigstens einmal des Tages dort rastete. Ein malerischer Teil des Herrschaftssitzes, der »Geisterweg« genannt, nahm sich von dieser Höhe herab sehr schön aus, und der unheimliche Name und die damit zusammenhängende alte Familiensage der Dedlocks, die mir Mr. Boythorn schon früher einmal erzählt hatte, verliehen der Landschaft neben ihren wirklichen Reizen etwas seltsam Geheimnisvolles. Nicht weit davon lag ein Abhang, auf dem die herrlichsten Veilchen wuchsen, und da es Charleys tägliches Vergnügen war, Blumen zu pflücken, gewann sie die Stelle so lieb wie ich selbst.
Ich kam nie in die Nähe des Hauses und hatte auch keine Veranlassung dazu. Die Familie war nicht anwesend, wie ich schon bei meiner Ankunft gehört hatte, und wurde auch nicht erwartet. Immerhin empfand ich eine gewisse Neugierde und ein Interesse für das Gebäude. Ich saß oft auf der Bank, malte mir aus, wie wohl das Haus eingerichtet wäre, und hätte gern gewußt, ob wirklich, wie die Sage erzählt, ein menschlichen Tritten ähnlicher Schall auf dem einsamen Geisterweg widerhalle. Das unbeschreibliche Gefühl, das Lady Dedlock in mir erweckt hatte, mag wohl dazu beigetragen haben, daß ich mich selbst während ihrer Abwesenheit von dem Hause fern hielt. Ich weiß es nicht gewiß, glaube aber, daß das der Grund war, der mich abschreckte, in die Nähe des Hauses zu gehen.
Eines Tages nun, nach einem langen Spaziergang, ruhte ich wieder auf meinem Lieblingsplatz aus, und Charley suchte Veilchen in meiner Nähe. Ich richtete wie gewöhnlich meinen Blick auf den sich in weiter Ferne in tiefem Schatten von Mauerwerk hinziehenden Geisterweg und malte mir die weibliche Gestalt aus, die dort angeblich spuken sollte, als ich wahrnahm, daß sich mir in Wirklichkeit eine Gestalt durch das Gehölz näherte. Der Ausblick war so von Laub verfinstert, und die auf dem Erdboden sich abmalenden Schatten der Zweige wirkten auf das Auge so verwirrend, daß ich sie anfangs nicht erkennen konnte, aber ganz allmählich zeigte es sich, daß es eine Dame war. – Und zwar Lady Dedlock! Sie war allein und näherte sich der Bank, wie ich mit Erstaunen bemerkte, in viel rascherem Schritt, als ich sie sonst je hatte gehen sehen.
Ihr unerwartetes Näherkommen versetzte mich in große Aufregung, und ich wäre gern aufgestanden, um meinen Spaziergang fortzusetzen, aber ich konnte nicht. Ich war wie gebannt. Nicht so sehr durch ihre aufgeregt flehende Gebärde, ihr rasches Näherkommen, ihre ausgestreckten Hände und die ganze Veränderung in ihrem sonst so stolzen selbstbeherrschten Wesen, als durch ein Etwas in ihrem Gesicht, nach dem ich geschmachtet und von dem ich geträumt hatte, als ich noch ein kleines Kind gewesen – von einem Etwas, das ich noch in keinem Gesicht gesehen.
Mir wurde ganz bang und schwach, und ich rief Charley. Lady Dedlock blieb sofort stehen und zeigte augenblicklich wieder ihre alte Haltung und ihre eisige Miene.
»Miß Summerson, ich fürchte, ich habe Sie erschreckt«, sagte sie und kam jetzt langsamer auf mich zu. »Sie können wohl kaum schon wieder bei Kräften sein. Ich weiß, daß Sie sehr krank gewesen sind. Es ist mir sehr zu Herzen gegangen, als ich es hörte.«
Ich hätte meine Augen ebensowenig von ihrem bleichen Gesicht wegwenden als von der Bank aufstehen können. Sie reichte mir ihre Hand, deren Eiseskälte mit der gezwungnen Fassung in ihrem Gesicht so im Widerspruch stand, daß mich der Bann noch mehr überwältigte. Ich kann nicht sagen, was für Gedanken mir durch den Kopf wirbelten.
»Aber Sie erholen sich jetzt wieder?« fragte sie freundlich.
»Vor einem Augenblick war mir noch ganz wohl, Lady Dedlock.«
»Ist dies Ihre junge Begleiterin?«
»Ja.«
»Möchten Sie sie nicht vorausschicken und mit mir Ihren Heimweg machen?«
»Charley«, sagte ich, »trag deine Blumen nach Hause. Ich werde gleich nachkommen.«
Mit ihrem besten Knicks band sich Charley errötend ihren Hut fest und entfernte sich. Als sie fort war, setzte sich Lady Dedlock neben mich auf die Bank.
Ich habe keine Worte, um meinen Gemütszustand zu beschreiben,
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