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Bleakhouse

Bleakhouse

Titel: Bleakhouse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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als ich in ihrer Hand mein Taschentuch sah, mit dem ich die Leiche des Kindes in der Zieglerhütte zugedeckt hatte.
    Ich blickte sie an. Aber ich konnte sie nicht sehen, ich konnte nicht Atem holen. So wild und ungestüm klopfte mein Herz, daß es mir vorkam, als wolle sich mein Leben von mir losreißen. Aber als sie mich an ihre Brust riß, mich mit heißen Tränen küßte, mich bedauerte, mich wieder zu mir selber brachte, dann vor mir auf die Knie fiel und mir zurief: »Mein Kind, mein Kind, ich bin deine verworfne unglückselige Mutter, oh, versuche mir zu vergeben...« als ich sie so zu meinen Füßen in ihrer großen Seelenqual liegen sah, fühlte ich mitten durch den Strom all dieser Gefühle ein Jauchzen der Dankbarkeit gegen die göttliche Vorsehung, daß ich jetzt so verändert war und durch keine Spur von Ähnlichkeit ihre Schande verraten konnte, gehen. Niemand hätte jetzt auch nur entfernt an einen nahen Verwandtschaftsgrad zwischen uns denken können.
    Ich hob meine Mutter auf und bat und flehte sie an, sich nicht solcher Betrübnis hinzugeben und sich so vor mir zu demütigen. Ich tat es in gebrochenen, unzusammenhängenden Worten, denn außer daß ich furchtbar aufgeregt war, erschreckte es mich, sie vor mir knien zu sehen. Ich sagte ihr oder versuchte es vielmehr, daß, wenn mir, ihrem Kinde, es überhaupt zukäme, von Verzeihen zu reden, ich ihr schon viele, viele Jahre vergeben hätte. Ich sagte ihr, daß mein Herz vor Liebe zu ihr überströme, vor einer natürlichen Liebe, die nichts längst Vergangenes verändert habe oder irgend etwas je verändern könne. Es käme nicht mir, die ich jetzt zum ersten Mal an der Brust meiner Mutter läge, zu, sie dafür zur Rechenschaft zu ziehen, daß sie mir das Leben gegeben, sondern daß es meine Pflicht sei, sie zu segnen und sie aufzunehmen, ob auch die ganze Welt sich von ihr abwende, und daß ich sie nur um Erlaubnis bitten könne, das tun zu dürfen.
    Ich hielt meine Mutter umarmt und sie mich, und in der schweigenden Waldung, in der stillen Ruhe des Sommertags schien es außer unser beider stürmisch klopfenden Herzen nichts zu geben, was nicht von Frieden erfüllt war.
    »Mich zu segnen und mich aufzunehmen!« stöhnte meine Mutter. »Dazu ist es viel zu spät! Ich muß meinen dunkeln Weg allein gehen, und er wird mich führen, wohin er will. Von Tag zu Tag, manchmal von Stunde zu Stunde, sehe ich nicht den nächsten Schritt vor meinen schuldigen Füßen. Das ist die irdische Strafe, die ich auf mich geladen habe. Ich muß sie tragen und sie verbergen.«
    Wie sie jetzt daran dachte, hüllte sie sich unwillkürlich wieder in die Miene stolzer Gleichgültigkeit wie in einen Schleier, aber nur einen Augenblick.
    »Ich muß dieses Geheimnis verbergen, wenn es überhaupt möglich ist, nicht bloß um meinetwillen. Ich habe einen Gatten, ich unglückliches und Schande bringendes Geschöpf!«
    Sie sprach diese Worte fast mit einem unterdrückten Schrei der Verzweiflung, der schrecklicher war, als wenn sie ihrer Leidenschaft freien Lauf gelassen hätte. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, schauderte in meiner Umarmung zusammen, als wollte sie vermeiden, daß ich sie berühre. Ich konnte sie mit all meiner Überredungskunst und meinen Liebkosungen nicht bewegen, aufzustehen. »Nein, nein, nein«, sagte sie, nur so könne sie mit mir sprechen, überall sonst müsse sie stolz und hochmütig sein. Hier in den einzigen natürlichen Minuten ihres Lebens wolle sie sich demütigen und sich schämen.
    Sie erzählte mir, sie sei während meiner Krankheit fast wahnsinnig geworden. Erst vor nicht langer Zeit habe sie erfahren, daß ihr Kind noch lebe. Vorher habe sie nicht ahnen können, daß ich ihre Tochter sei. Sie wäre mir hierher gefolgt, um nur ein einziges Mal in ihrem Leben mit mir zu sprechen. Wir könnten nie zusammen kommen, nie miteinander verkehren, vielleicht von dieser Zeit an nie wieder auf Erden ein Wort miteinander sprechen. Sie übergab mir einen Brief, den sie nur für mich geschrieben hatte, und sagte mir, wenn ich ihn gelesen haben würde und vernichtet – nicht sowohl um ihretwegen, denn sie verlange für sich nichts mehr, als um ihres Gatten und meinetwillen –, müßte ich sie für immer als gestorben betrachten. Wenn ich glauben könnte, daß sie in der Seelenqual, in der ich sie jetzt sähe, mich mit der Liebe einer Mutter umfange, so bäte sie mich, es zu tun. Denn dann würde ich bei der Erinnerung daran, was sie gelitten, mit

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