Bleakhouse
bemühen, Lady Dedlock. Bitte, schonen Sie sich.«
»Ich habe das alles, wie Sie wissen, schon lange kommen sehen. Ich wünsche mich weder zu schonen noch von Ihnen schonen zu lassen. Schlimmeres, als Sie mir schon zugefügt haben, können Sie nicht tun. Verfahren Sie jetzt, ganz wie es Ihnen beliebt.«
»Lady Dedlock, es handelt sich um nichts dergleichen. Ich werde mir erlauben, ein paar Worte zu sprechen, wenn Sie zu Ende sind.«
Die beiden hätten eigentlich nicht mehr nötig, einander zu beobachten, aber sie tun es ohne Unterlaß, und die Sterne beobachten sie beide durch das offne Fenster herein. Draußen im Mondlicht liegt friedlich das Waldland, und das weite Haus des Lebens ist so still wie das enge des Todes. Das enge! Wo sind in dieser stillen Nacht der Totengräber und der Spaten, bestimmt, das letzte große Geheimnis zu den vielen Geheimnissen des Tulkinghornschen Daseins zur Ruhe zu bestatten? Ist der Mann schon geboren, der Spaten schon geschmiedet? Seltsame Frage, darüber nachzudenken. Seltsamer vielleicht noch, nicht darüber nachzudenken unter den beobachtenden Sternen der Sommernacht.
»Von Reue oder Gewissensbissen oder jedem andern Gefühl meines Herzens sage ich kein Wort«, fährt Lady Dedlock fort. »Wenn ich nicht stumm wäre, würden Sie taub sein. Lassen wir das. Es paßt nicht für Ihre Ohren.«
Er macht eine protestierende Bewegung, aber sie weist ihn verächtlich mit der Hand zurück. »Ich bin hier, um über ganz andre Dinge mit Ihnen zu sprechen. Meine Juwelen liegen an ihrem gewöhnlichen Aufbewahrungsort. Man wird sie dort finden. Meine Kleider ebenfalls. Alle meine Wertsachen ebenso. Ein wenig bares Geld habe ich bei mir, aber nicht viel. Ich trage nicht meine eignen Kleider, um nicht erkannt zu werden. Ich bin gegangen, um von heute an verschwunden zu sein. Berichten Sie das. Weiter lasse ich Ihnen keinen Auftrag zurück.«
»Entschuldigen Sie, Lady Dedlock«, sagt Mr. Tulkinghorn unbewegt. »Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstehe. Sie sind gegangen?...«
»Um für alle hier verloren zu sein. Ich verlasse heute nacht Chesney Wold. Ich gehe diese Stunde.«
Mr. Tulkinghorn schüttelt den Kopf. Sie steht auf. Aber er, ohne die Hand von der Stuhllehne zu nehmen und ohne sonst seine Stellung zu ändern, schüttelt den Kopf.
»Was? Ich soll nicht gehen, wie ich gesagt habe?«
»Nein, Lady Dedlock«, antwortet er sehr ruhig.
»Wissen Sie denn nicht, welche Erleichterung für alle mein Verschwinden sein wird? Haben Sie denn vergessen, wer der einzige Schandfleck dieses Schlosses ist?«
»Nein, Lady Dedlock, durchaus nicht.«
Ohne ihn eines weiteren Wortes zu würdigen, geht sie zu der inneren Tür und faßt die Klinke, da sagt er zu ihr, ohne Hand oder Fuß zu bewegen oder auch nur seine Stimme zu erheben:
»Lady Dedlock, haben Sie die Gewogenheit, zu bleiben und mich anzuhören, oder ich bin gezwungen, ehe Sie noch die Treppe erreichen, die Alarmglocke zu ziehen und das Haus zusammenzurufen. Und dann müßte ich vor jedem Gast und jedem Bedienten, Mann oder Frau, frei heraussprechen.«
Er hat sie bezwungen.
Sie wankt, zittert und legt die Hand verwirrt an die Stirn. Bei jeder andern wären das unwichtige Zeichen, aber wenn ein so geübtes Auge wie das Mr. Tulkinghorns nur eine Spur von Schwanken in einer solchen Frau sieht, so weiß er, woran er ist.
Er wiederholt rasch: »Haben Sie die Gewogenheit, mich anzuhören, Lady Dedlock«, und deutet nach dem Stuhl, von dem sie eben aufgestanden ist. Sie zaudert, aber er wiederholt die Handbewegung, und sie setzt sich.
»Unsre Stellung zueinander ist unerquicklicher Natur, Lady Dedlock, aber da ich sie nicht dazu gemacht habe, brauche ich mich deshalb nicht zu entschuldigen. Die Stellung, die ich Sir Leicester gegenüber einnehme, ist Ihnen so gut bekannt, daß ich Ihnen wohl längst als die für eine solche Entdeckung berufenste Person erscheinen mußte.«
Lady Dedlock heftet ihre Augen auf den Boden und blickt nicht mehr auf. »Sir, es wäre besser, ich wäre gegangen. Es wäre viel besser gewesen, Sie hätten mich nicht zurückgehalten. Ich habe nichts zu erwidern.«
»Entschuldigen Sie mich, Lady Dedlock, wenn ich Ihnen noch etwas zu bedenken geben muß.«
»Dann wünsche ich, es am Fenster zu hören. Ich kann hier nicht atmen.«
– Sein argwöhnischer Blick, wie sie ans Fenster geht, verrät einen bangen Zweifel, ob sie sich nicht mit dem Plane tragen könnte, sich hinauszustürzen und unten auf der Terrasse zu
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