Bleib bei mir, kleine Lady
bitte vorsichtig, und wenn du Angst bekommst, dann sag es mir!“
„Ich bekomme schon keine Angst“, sagte Gracila und schürzte die Röcke mit den drei steifen Unterröcken.
Ehe die Mode die Frauen gezwungen hatte, diese Unterröcke zu tragen, war alles einfacher gewesen, aber Gracila war schon auf so viele Bäume geklettert, daß diese gerade Fichte mit den Eisenstangen kein Problem für sie bedeutete.
Oben angekommen, streckte Lord Damien die Hand nach unten und zog sie das letzte Stückchen hoch.
Die Berührung seiner Hand, ihm einen Augenblick so nahe zu sein – Gracila konnte sich nichts Schöneres denken.
Und dann sah sie um sich und stieß einen kleinen Begeisterungsschrei aus.
Das Krähennest war größer, als sie vermutet hatte. Der Boden der Plattform war aus Holz. Er lief in einer Breite von gut einem Meter um den ganzen Baumstamm herum. Ein Holzgitter, das Gracila bis zur Taille ging, sorgte dafür, daß man sich sicher fühlte.
Auf der Plattform standen zwei Hocker und ein schmaler Tisch.
„Wir hätten hier oben zu Mittag essen können!“ rief Gracila begeistert.
„Ich wollte im Schein der Sonne mit dir zusammen sein“, sagte Lord Damien.
Gracila lächelte ihn an, dann wanderte ihr Blick über den Park vor Lynmouth House.
Sie konnte verstehen, daß der zweite Marquis von Lynmouth über die Nähe der Grenze erbost war. Der Park lag direkt unter Gracila. Sie konnte die Terrasse, die an der ganzen Rückfront des Hauses entlanglief, genau sehen. Und natürlich auch den Rasen, auf dem schon viele Gäste in Gruppen zusammenstanden und sich angeregt unterhielten.
Von ihr aus gesehen etwas weiter entfernt war ein großes Zelt aufgestellt, in dem offensichtlich Erfrischungen gereicht wurden. Diesseits des Rasens saß auf einem Podium ein kleines Orchester.
Im Augenblick spielte es einen Walzer, und Gracila hätte viel darum gegeben, hätte sie diesen Walzer mit Lord Damien tanzen können.
„Ich bin überzeugt, daß du fabelhaft tanzt“, sagte er, als habe er ihre Gedanken gelesen.
„Es wäre wundervoll, mit dir zu tanzen“, entgegnete Gracila.
Ihre Augen trafen sich, dann wich Lord Damien Gracilas Blick aus.
„Hier, nimm“, sagte er, weil er das Thema wechseln wollte. „Durch das Fernglas wirst du das Gesicht der Königin genau erkennen können.“
Er nahm es vom Hals und legte es auf den schmalen Tisch.
„Bis die Königin kommt“, sagte Gracila, „erzähle ich dir, wer die einzelnen Leute sind, und dann wirst du dich wundern, wie alt und verknöchert sie geworden sind, seit du sie zum letztenmal gesehen hast.“
„Wenn sie das hören würden, wären sie nicht sonderlich begeistert.“
„Ich finde es sehr lustig, daß wir sie beobachten können und sie keine Ahnung davon haben.“
Sie nahm den Feldstecher, stellte ihn auf ihre Sehschärfe ein und setzte sich auf einen der Hocker.
„Oh, schau!“ rief sie. „Da ist Eloise D’Arcy, das hübscheste Mädchen aus der ganzen Grafschaft. Du mußt sie dir ansehen.“
„Ich sehe lieber dich an“, erwiderte Lord Damien prompt.
„Vielleicht solltest du sie doch nicht ansehen, denn wenn sie dir besser gefällt als ich, wäre ich sehr eifersüchtig.“
„Ich könnte dich eifersüchtig machen?“
„Nein“, antwortete Gracila. „Ich glaube, wir würden beide nicht eifersüchtig reagieren, denn was wir füreinander empfinden, ist mehr als das bloße Besitzenwollen. Es geht viel tiefer und ist viel wichtiger.“
„Und trotzdem gehörst du mir“, sagte Lord Damien.
„Gerade deshalb sollte ich ja nicht eifersüchtig sein“, erklärte Gracila. „Ich gehöre dir allein. Alles an mir gehört dir, und deshalb habe ich anderen nichts mehr zu bieten.“
Wieder wechselte Lord Damien abrupt das Thema.
„Wen kennst du sonst noch?“ fragte er.
Gracila hielt den Feldstecher vor die Augen.
„Oh, da ist mein Papa mit meiner Stiefmutter!“ rief sie. „Sie sind gerade auf die Terrasse herausgekommen. Das bedeutet, daß die Königin eingetroffen sein muß.“
„Woher weißt du das?“ fragte Lord Damien.
„Weil Papa bei dem Komitee ist, das für die Erstellung des Krankenhauses gesorgt hat und er und der Marquis von Lynmouth dazu ernannt waren, die Königin nach der Einweihung durch die einzelnen Krankenstationen zu führen.“
„Dann wird ja jetzt dein Herzenswunsch in Erfüllung gehen“, sagte Lord Damien. „Endlich kannst du die sehr junge und, wie es heißt, sehr herrschsüchtige kleine Königin von England in
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