Bleib bei mir, kleine Lady
sie die alte Mrs. Bates gefragt, die schon seit Jahrzehnten in Barons’ Hall war.
„So ein hübscher Junge ist er gewesen“, erzählte Mrs. Bates, als Gracila nach seiner Kindheit gefragt hatte. „Und als er dann herangewachsen war, da hat er so gut ausgesehen, daß man es nicht hat glauben wollen.“
Sie stieß einen tiefen Seufzer aus.
„Wir haben ihn angebetet, wirklich, Mylady“, sagte sie, „und es war für uns alle ein richtiger Schock, als er mit der Marquise auf und davon ging.“
„Haben Sie die Marquise je gesehen?“ fragte Gracila.
„Natürlich, Mylady, aber da ist jedes Wort schade, das man verliert. Eine Frau ihres Alters, die einem Jungen den Kopf verdreht, der sich noch kaum rasieren muß! Schändliche Kindesverführung war das, das habe ich damals schon gesagt, und ich bin auch heute noch der Meinung.“
Mrs. Bates war nicht mehr zu bremsen. Sie erzählte von Weihnachtsfeiern, bei denen »Master Virgil’ die Geschenke an die Dienstboten verteilt hatte. Und von seiner Freundlichkeit den alten Menschen gegenüber und von einem Jungen, der beim Stehlen erwischt worden und nur deshalb nicht in ein Jugendgefängnis gesteckt worden war, weil ‚Master Virgil 4 sich für ihn eingesetzt hatte.
„Ein Herz aus Gold hatte unser Master Virgil“, sagte Mrs. Bates und schüttelte den Kopf. „Aber diese Menschen werden ja immer ausgenutzt.“
Doch in die Vergangenheit zurückzukehren war sinnlos. Gracila sehnte sich danach, Lord Damien in der Zukunft helfen zu können, und genau diesen Wunsch wollte er ihr nicht erfüllen.
Sie stand während der Nacht immer wieder auf, ging ans Fenster und sah hinaus. Wenn der Regen nicht aufhörte und sie das Haus nicht verlassen konnten, würde der folgende Tag nicht so verlaufen, wie sie es sich sehnlichst erhofft hatte.
Um fünf Uhr morgens begannen die goldenen Finger der Dämmerung die Dunkelheit der Nacht zu vertreiben, und die Sterne verblaßten.
Gracila versuchte, dies nicht für ein Omen der Hoffnung zu halten. Was blieb ihr außer den fünf Stunden, die Lord Damien ihr versprochen hatte, zu hoffen?
Wir müssen sie beide in vollen Zügen genießen, dachte sie.
Sie sagte sich immer wieder, daß sie sich ihre Verzweiflung nicht anmerken lassen durfte, doch sie fragte sich gleichzeitig, wie sie ein Leben ohne ihn ertragen sollte.
Wie nur?
Andererseits, was nützten Worte und Tränen? Wenn Gracila ihn dadurch noch unglücklicher machte, als er es ohnehin schon war, so würde sie ihm weh tun, wie ihm jede Frau weh getan hatte, vor allem die Marquise.
In den vielen Stunden, in denen Gracila in den letzten Tagen mit Lord Damien zusammen gewesen war, war sie zu der festen Überzeugung gekommen, daß sein Idealismus trotz aller Enttäuschungen noch lebte.
Wenn wir zusammen sein könnten, dachte sie immer wieder, würde ich ihn bestimmt dazu bringen, daß er die Vergangenheit völlig vergißt.
Doch sie wußte, daß dieser Gedanke so hoffnungslos war wie die Tränen der vergangenen Nacht.
Sie hatte eines ihrer schönsten Kleider angezogen. Es war aus blaßblauer, ganz feiner Baumwolle und ließ sie besonders zart und schutzbedürftig aussehen.
Sie frisierte sich mit viel Sorgfalt, denn er sollte sich immer an ihr Haar erinnern, und sie wusch die Tränenspuren weg.
Und so stand sie nun da, beobachtete die Zeiger der Uhr und sah lieblicher aus denn je.
Als es endlich zehn vor elf war, verließ sie das Zimmer.
Die Dienstboten waren eben in dem Landauer weggefahren, und Lord Damien mußte vor ungefähr fünfzehn Minuten losgeritten sein.
Den Picknickkorb am Arm, den ihr Mrs. Hansell zurechtgemacht hatte, ging Gracila die Treppe hinunter.
Im Park roch noch alles nach dem Regen von gestern. An diesem Morgen blieb Gracila unter keinem Baum stehen und betrachtete keine Blüten.
Keine Sekunde wollte sie von den kostbaren fünf Stunden verlieren, die er ihr geschenkt hatte.
Lord Damien wartete an der üblichen Stelle auf sie. Sampson graste am Ufer des Baches.
Gracila lief auf Lord Damien zu. Als sie plötzlich hinter einem Baum hervorkam, glaubte dieser, noch nie eine schönere Frau gesehen zu haben.
„Da bist du endlich!“ rief Lord Damien und sah sie nur an.
„Ich habe uns etwas zu essen mitgebracht“, sagte Gracila schnell. „Mrs. Bates hat mir noch Pfirsiche aus dem Gewächshaus geholt, weil ich die so gern mag.“
Lord Damien lächelte. „Und ich habe einen ganz besonderen Wein aus dem Keller geholt. Ich habe ihn einstweilen ins Wasser
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