Bleib ungezaehmt mein Herz
stieg leichtfüßig auf und streckte Harriet die Hand entgegen. »Bitte glauben Sie mir, wir werden nicht umkippen. Ich verspreche es Ihnen.«
»Nein, nein, davor habe ich auch keine Angst«, erwiderte Harriet, ergriff tapfer die helfende Hand und kletterte neben Judith auf den Kutschbock. »Aber man sitzt so schrecklich hoch!« Sie betrachtete unbehaglich die unruhig mit den Hufen scharrenden Pferde. Sie warfen nervös die Köpfe hoch, und ihr Zaumzeug klirrte in der kühlen Herbstluft.
Judith fühlte ihre Mäuler mit einer sensiblen Bewegung der Zügel. »Sie sind sehr ausgeruht«, erklärte sie mit einer heiteren Sorglosigkeit, die Harriet nicht nachvollziehen konnte. »Ich bin gestern nicht mit ihnen ausgefahren, deshalb sind sie jetzt etwas zappelig und sehnen sich nach Bewegung.« Sie befahl dem Jungen, der die Tiere am Zaumzeug festhielt, sie loszulassen, und das Gespann schoß augenblicklich mit einem Satz vorwärts. Harriet unterdrückte einen entsetzten Aufschrei, während sie sich krampfhaft am Sitz festhielt. Judith brachte die Tiere sofort wieder unter Kontrolle und ließ sie ruhig im Schritt weiterlaufen.
»So ist es besser«, sagte sie, als sie um die Ecke in eine belebte Durchgangsstraße einbogen. »Ich lasse ihnen die Zügel, sobald wir den Park erreichen.«
Harriet erwiderte nichts auf diese Absichtserklärung, sondern verkrampfte nur die Hände im Schoß, als ein offener Zweispänner vorbeischoß und knapp an den Rädern von Judiths Kutsche entlangstreifte. Ein dürrer Mischlingshund lief zwischen den Rädern, ein tropfendes Stück Fleisch im Maul. Er wurde von einem rotgesichtigen Mann mit blutbespritzter Schürze verfolgt, der ein Hackbeil schwang. Eines von Judiths Pferden richtete sich plötzlich auf der Hinterhand auf, als der Hund zwischen seine Hufe geriet und ihm der Blutgeruch des Fleisches in die Nüstern stieg. Harriet stieß einen kleinen Schrei aus, doch Judith beruhigte ihre Pferde mit sicherer Hand und spähte über ihre Schulter zurück, um zu sehen, was mit dem Hund passiert war. »Oh, gut«, sagte sie. »Er konnte entkommen. Ich möchte mir lieber nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn ihn das Beil des Schlachters erwischt hätte, Sie etwa?« Sie lachte und warf einen Seitenblick auf Harriet.
»Oje, hat Ihnen das angst gemacht?« fragte sie beim Anblick von Harriets kreidebleichem Gesicht. »Ich versichere Ihnen, ich werde mit diesen Pferden in jeder Situation fertig. Marcus hat mich alle möglichen Dinge üben lassen, ich mußte sogar mit einem temperamentvollen Vierergespann durch eine enge Toreinfahrt fahren, bevor ich ihn davon überzeugen konnte, daß ich fähig bin, dieses Gespann zu lenken.«
Harriet lächelte matt, und Judith setzte zu einem neuen Versuch an. »Reiten Sie gern?«
»O ja, und besonders gerne bei Jagden.« In der Stimme des Mädchens lag echte Begeisterung, und Judith stieß innerlich einen Seufzer der Erleichterung aus. Sebastian ritt leidenschaftlich gerne bei Treibjagden, und man konnte ihn sich nur schwer mit einer Seelenfreundin vorstellen, die diesen Sport mit der gleichen Abscheu betrachtete wie hochsitzige Zweispänner.
Sie bogen in den Park ein, wo sich die Schickeria von London drängte. Judith beobachtete mit einiger Belustigung, wie sich eine junge Dame in hochmodischem Reitkostüm abmühte, zwei Rappen zwischen den Deichseln eines hochsitzigen Zweispänners zu zügeln, während ein sichtlich verängstigter Bräutigam neben ihr saß. Nicht jede der jungen Frauen, die es gar nicht erwarten konnten, der kühnen Lady Carrington nachzueifern, besaß auch das Geschick Ihrer Ladyschaft im Umgang mit Pferden. Diejenigen, die es hatten, bildeten einen exklusiven Kreis mit Judith im Mittelpunkt. Judith hob mehrmals ihre Peitsche zum Gruß, als die eine oder andere dieser Freundinnen vorbeifuhr, und hielt auch mehrfach an, um andere Bekannte zu begrüßen und Harriet vorzustellen. Harriet schien die Aufmerksamkeit zu genießen und begann sich bald zu entspannen, während sie freimütig über ihr Leben, ihre Familie, ihre Vorlieben und Abneigungen plauderte. Sie hatte viel Sinn für Humor, wie Judith entdeckte, und es gab reichlich Gelegenheit, ihr ansteckendes, melodisches Lachen zu hören.
»Ich glaube, Lady Barret winkt uns zu«, sagte Harriet, als sie zur zweiten Runde durch den Park starteten.
Agnes und Gracemere standen am Gehsteig, lächelnd und winkend. Judith brachte ihre Kutsche neben ihnen zum Stehen und sagte liebenswürdig: »Guten
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