Bleib ungezaehmt mein Herz
interessierten ihn im Moment auch nicht. Dafür wäre später noch Zeit. Im Moment trieb Marcus nur ein Gedanke vorwärts - er mußte Judith finden, bevor ihr etwas passierte.
An der ersten Tür wußte man nichts vom Earl von Gracemere.
Der Butler in der gepuderten Perücke hinter der zweiten Tür bat Marcus augenblicklich herein. Madame kam mit strahlendem Lächeln aus dem Salon, bereit, einen neuen Kunden zu begrüßen.
»Wo ist Gracemere?«
Die barsche Frage, die brennenden schwarzen Augen, die fast maskenhafte Ausdruckslosigkeit seines Gesichts beeindruckten Madame, wie nichts sonst es vermocht hätte. »Ich glaube, Seine Lordschaft ist im oberen Stock, Sir. Erwartet er Sie?«
»Das sollte er eigentlich«, erwiderte Marcus. »Zeigen Sie mir den Weg, wenn ich bitten darf.«
Madame konnte sich in etwa denken, welche Geschäfte der Neuankömmling mit dem Earl zu erledigen hatte. Sie winkte Bernice heran. Es ging sie nichts an, wenn Gracemere durch sein Verhalten wütende Ehemänner auf den Plan rief, und sie wollte keine Szene in ihrer Eingangshalle haben. »Bernice, bringen Sie den Gentleman auf Lord Gracemeres Zimmer.«
Marcus eilte hinter dem Mädchen die Treppe hinauf. An der Tür entließ er sie mit einer Handbewegung. Er blieb einen Augenblick stehen und lauschte. Absolute Stille. Vorsichtig drehte er den Knauf und stieß dann die Tür auf. Es war nur eine einzige Person im Zimmer.
Gracemere lümmelte sich auf einem Stuhl am Tisch, ein Glas Rotwein in der Hand, sein Blick auf die fast beleidigend fröhlichen Flammen im Kamin gerichtet. Sein Kopf fuhr herum, als die Tür aufging.
»Ah, Gracemere«, meinte Marcus, täuschend freundlich. »Da sind Sie ja.«
»Ich fühle mich geschmeichelt, von Ihnen aufgesucht zu werden, Carrington.« Bernard trank einen Schluck Wein. »Welchem Umstand verdanke ich diese unerwartete Aufmerksamkeit?«
»Oh, das ist ganz einfach.« Marcus warf seinen Stock auf den Diwan und setzte sich auf den Stuhl dem Earl gegenüber. Er musterte die beiden Gedecke auf dem Tisch, bevor er sich wieder Gracemere zuwandte. »Die Sache ist ganz simpel, wie schon gesagt. Wo ist meine Frau, Bernard?«
Gracemere machte eine weitausholende Geste. »Warum fragen Sie mich das? Ich speise allein, wie Sie sehen.«
»So könnte es einem Vorkommen«, gab Marcus zu. »Aber Sie erwarten eindeutig noch einen Gast.« Er griff nach der Gabel an seinem Platz und musterte sie kritisch, bevor er auf das zweite Weinglas auf dem Tisch deutete. Es war halb voll. »Ist Ihr Gast vorübergehend verschwunden?«
Der Earl lachte sardonisch. »Nicht nur vorübergehend, wie ich doch sehr hoffen will.«
»Oh? Sie interessieren mich ungemein, Gracemere. Bitte erklären Sie sich deutlicher.« Marcus drehte den Stiel des Weinglases zwischen Daumen und Zeigefinger, während er den Earl intensiv über den Tisch hinweg anstarrte.
»Ihre Frau ist nicht hier«, erwiderte Gracemere. »Sie war hier, aber inzwischen wird sie wohl sicher zu Hause in ihrem Bett liegen.«
»Ich verstehe.« Marcus stand auf. »Und die Umstände ihres Aufbruchs...«
Gracemere schauderte. »Völlig unschuldig, das versichere ich Ihnen. Die Tugend Ihrer Frau ist in keiner Weise angetastet worden, Marcus. Wenn Sie mich jetzt vielleicht in Ruhe zu Ende essen lassen würden.«
»Sicher. Aber gestatten Sie mir einen gutgemeinten Rat. Falls Sie weitere Pläne in bezug auf die Gesundheit und das Wohlergehen meiner Frau haben, rate ich Ihnen, sie unverzüglich aufzugeben.« Er ergriff seinen Stock und schlug sich damit nachdenklich auf die Handfläche. »Es würde mir gar nicht gefallen, Sie noch einmal mit einer Pferdepeitsche bearbeiten zu müssen, aber falls es dennoch notwendig sein sollte, kann ich Ihnen garantiert versprechen, daß es diesmal kein Geheimnis bleiben wird. Es wird die am meisten beklatschte Sensation in dieser und allen folgenden Saisons sein.«
Er verbeugte sich, und jede Linie seines Körpers drückte Spott aus, aber in seinen Augen flackerte unverhüllter Haß, als er seinen Blick eine Sekunde auf Gracemeres hochrotem Gesicht ruhen ließ. »Unterschätzen Sie mich nicht noch einmal, Bernard. Und denken Sie daran, daß ich beim nächsten Mal nicht zulassen werde, daß Stolz die Wahrheit kaschiert. Ganz egal, welchen Problemen ich mich stellen muß - ich bin zu allem bereit, um Sie zu entlarven. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«
Er verließ das Zimmer und schloß leise die Tür hinter sich.
27. Kapitel
Marcus ging zu Fuß
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