Bleib ungezaehmt mein Herz
von Wahrheit und Verständnis aufgedeckt, enthüllst du ein Dutzend weiterer Schichten.«
»Ich bin sicher, du hast in deinem ganzen Leben noch keine Zwiebel geschält«, sagte Judith, momentan abgelenkt.
»Das steht jetzt nicht zur Debatte.«
Sie seufzte. »Ich weiß, es war Gracemere, der dir Martha weggenommen hat...« Sie brach ab, als Marcus scharf Luft holte, aber als er nichts erwiderte, fuhr sie energisch fort. »Gracemere hat es mir erzählt, als Erklärung dafür, warum du ihm so feindlich gesinnt bist. Ich wollte...« Sie unterbrach sich, warf ihm einen schnellen Blick zu. Sein Gesicht war ausdruckslos, weder ermutigend noch bedrohlich.
»Ich wollte etwas über Martha erfahren«, fuhr sie hastig fort. »Du wolltest nicht über sie sprechen... bis auf das eine Mal in dem Gasthof in Quatre Bras, und damals sagtest du, du würdest nie wieder von ihr erzählen. Du sagtest, sie wäre in jeder Hinsicht das Gegenteil von mir gewesen, und ich wollte gern wissen, wie sie war... was das bedeutete. Ich war fast besessen von dem Drang, mehr über sie zu erfahren«, schloß sie und breitete die Hände in einer um Verständnis bittenden Geste aus.
Marcus starrte sie an, unfähig zu reagieren. Weibliche Neugier! War das alles, was dahintersteckte? Judith hatte einfach nur wissen wollen, was ihre Vorgängerin für ein Mensch gewesen war? Die Einfachheit der Antwort irritierte ihn. Sie schien zu simpel für jemanden von Judiths kompliziertem Wesen. Und dennoch war sie durchaus verständlich. Er war unnachgiebig in seiner Weigerung gewesen, über diesen Aspekt der Vergangenheit zu reden.
»Ich habe Gracemere nie gemocht, Marcus«, sagte Judith, als er weiterhin schwieg. Sie überlegte blitzschnell, und die verzerrte Wahrheit ging ihr mühelos über die Lippen.
»Ich habe ihm auch nie getraut, das war auch der Grund, weshalb ich den Senf genommen habe. Aber ich dachte, es würde keinen Schaden anrichten, wenn ich die Bekanntschaft lange genug mit ihm pflegte, um meine Neugier zu stillen. Er hat mit mir gespielt. Das wußte ich von vorneherein. Und ich dachte, solange ich es nur weiß, könnte ich mitspielen, ohne daß etwas Ernstes passiert. Ich würde herausfinden, was ich wissen wollte, und damit wäre die Sache erledigt. Ich hatte nicht die Absicht, dich zu verletzen... ich... o Gott, wie kann ich dich bloß davon überzeugen?«
Marcus las eine Weile in ihrem Gesicht, dann nickte er langsam. »Ich glaube dir. Hat er deine Neugier gestillt?«
Judith schüttelte den Kopf. »Dafür war keine Zeit. Als ich heute abend erkannte, was er im Sinn hatte, mußte ich schnell etwas unternehmen.«
Marcus wandte sich zum Kamin um und legte noch ein Scheit ins Feuer. Als er sprach, klang seine Stimme geschäftsmäßig.
»Es ist wahr, daß Martha sich in Gracemere verliebte. Und ich glaube auch, wenn ich ihr gegenüber aufmerksamer gewesen wäre, hätte sie sich nicht mit Gracemere eingelassen. Ich bin mit Martha zusammen aufgewachsen. Das Landgut ihrer Familie grenzte an mein eigenes, und es war immer wie selbstverständlich, schon fast von der Wiege an, daß wir die beiden Besitztümer eines Tages zu einem vereinigen würden. Ich sah keinen Anlaß, den Plan in Frage zu stellen, sah aber ebensowenig einen Grund, Martha deswegen besondere Aufmerksamkeit zu schenken.«
Ein Holzscheit rutschte in einer Flüt von Funken vor seine Füße, und er schob es mit seiner Stiefelspitze in den Kamin zurück. »Ich habe mich auf die Art und Weise amüsiert, wie es die meisten jungen Männer mit zuviel Geld und zuwenig sinnvoller Beschäftigung tun. Martha war ein unscheinbares Geschöpf, eine kleine braune Maus.«
Er blickte zu Judith hinüber, die trotz der Ereignisse des Abends in strahlendem Glanz dastand. »Du und sie, ihr seid wie Feuer und Wasser«, sagte er. »Sowohl körperlich als auch was das Temperament betrifft. Martha war schwach und leicht zu beeinflussen. Die perfekte Beute für jemanden wie Gracemere, der sich immer an anderen bereicherte und seine Zeit damit verbrachte, dem Gerichtsvollzieher und dem Gefängnis zu entwischen. Aber er ist von untadeliger Herkunft und kann, wenn es ihm paßt, elegant auftreten und mit honigsüßer Zunge daherreden. Sie brannten miteinander durch und ließen mich als den verabscheuungswürdigen Freier dastehen, der einer Frau gegen ihren Willen aufgezwungen wurde.«
Er drehte sich wieder zum Zimmer um, stützte einen Arm auf den Kaminsims und starrte blicklos ins Feuer, als die Erinnerung
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