Bleib ungezaehmt mein Herz
würde das absolute Gegenteil von kokett sein. Bevor sie ging, schickte sie Millie zu einer Besorgung in die Küche hinunter, die die Zofe ausgesprochen verwirrte. Fragen waren jedoch nicht erwünscht, und so holte Millie das Erforderliche und sparte sich ihre Neugier für später im Dienstbotenzimmer auf, wo Ihre Ladyschafts seltsame Bitte in aller Ausführlichkeit diskutiert würde.
Judith ließ das Päckchen in ihrer Handtasche verschwinden, zog den Schal um ihre Schultern zurecht und ging die Treppe hinunter. Die Willoughbys hatten zu einem relativ frühen Zeitpunkt eingeladen, und Marcus war schon aus dem Haus gegangen.
Die unauffällige Mietkutsche wartete an derselben Ecke wie zuvor auf Judith, und wie zuvor saß der Earl darin, um sie zu begrüßen.
»Guten Abend, Bernard«, sagte Judith heiter. »Ich muß schon sagen, Sir, Ihre Einladungen sind immer sehr kurzfristig angesetzt.«
»Abenteuer sollen einen ja auch überraschen«, erwiderte er. »Und Sie mögen doch Abenteuer, nicht wahr, meine liebe Judith?«
Judith brachte ein neckisches kleines Kichern zustande. »Ohne sie wäre das Leben recht langweilig, Sir.«
»Ganz recht. Und der so überaus seriöse Ehemann... wie haben Sie sich seiner für den Abend entledigt?«
Judith knirschte mit den Zähnen. »Marcus hatte selbst eine Verabredung«, erklärte sie. »Wohin fahren wir, Bernard?«
»Das ist eine Überraschung! Aber ich nehme doch an, Sie werden entzückt sein.«
»Da bin ich mir ganz sicher.« Sie schlug aufgeregt die Hände zusammen, und ihre Augen leuchteten erwartungsvoll im matten Zwielicht der Kutsche. »Ich mag Überraschungen ebensosehr wie Abenteuer.«
»Wunderbar«, sagte er und griff nach ihrer Hand. »Ich hoffe, diese hier wird alle Ihre Erwartungen erfüllen.«
»Und ich hoffe, der Abend wird alle Ihre Erwartungen erfüllen, Bernard«, sagte sie mit einem etwas scheuen Lächeln.
Er zog ihre Hand an seine Lippen.
Die Kutsche fuhr vor einem hohen Stadthaus vor, über der Tür brannte eine Laterne, hinter den mit Spitzenvorhängen drapierten Fenstern schimmerte Licht. Judith stieg aus und blickte sich neugierig in der Straße um. »Wo sind wir hier?«
»In der Jermyn Street«, bemerkte Gracemere beiläufig. »Ein kleines und sehr diskretes Hotel, das ich gelegentlich aufsuche. Kommen Sie, meine Liebe.« Er geleitete sie zur Tür, die von einem ältlichen Butler in gepuderter Perücke geöffnet wurde.
»Mylord... Madam.« Er verbeugte sich. »Madame ist im Salon.«
Judith ließ sich in den Salon führen. Sie betrachtete die vergoldeten Schnitzereien, die schweren Satinvorhänge, die tiefen Armsessel und die Frauen in ihren eleganten Abendkleidern, die nur eine Kleinigkeit an sich hatten, die etwas fehl am Platz schien. Die Luft war schwer von Moschusduft, einem dekadenten, übertrieben süßlichen Geruch, und Judith wußte augenblicklich, wohin Gracemere sie gebracht hatte. Sie war schon früher an Orten wie diesen gewesen: luxuriöse Bordelle für die Reichen, die auch die ausgefallensten Wünsche befriedigten. Es gab nichts, was diese Frauen nicht tun würden, wenn nur der Preis stimmte.
Sie warf einen Seitenblick auf ihren Begleiter und sah das Lächeln, das um seinen grausamen Mund spielte, als er ihre angebliche Gastgeberin begrüßte. Wahrscheinlich glaubt er, ich wüßte nicht, was das hier für ein Haus ist, dachte Judith. Schließlich - welche respektable Dame der gehobenen Gesellschaft würde sich mit solchen Etablissements auch auskennen? Gracemere konnte ja nicht wissen, daß ihr Vater viele gute Freunde gehabt hatte, die Häuser wie dieses führten - Freunde, die dem verarmten Spieler und seinen Kindern gelegentlich kostenlose Unterkunft gewährt hatten... Unterkunft und Trost für den einsamen Witwer. Ihrem Vater hatte es nie an weiblicher Gesellschaft gemangelt, wie Judith sich erinnerte. Er hatte etwas an sich gehabt, was Frauen anzog. Sie nahm an, er hatte nie für den Trost bezahlt, der ihm an Orten wie diesem hier zuteil geworden war. Nachdem seine Kinder ein gewisses Alter erreicht hatten, hatte George Davenport diese Art von Gastfreundschaft jedoch nicht mehr angenommen, dennoch war Judiths Erinnerung kristallklar.
Madame begrüßte sie höflich, doch ihr Blick taxierte Judith rasch und gewitzt, und auch sie schien in den Spaß mit Gracemere eingeweiht. Sie kannten einander offensichtlich gut.
»Ihr privates Speisezimmer ist fertig, Mylord«, sagte sie. »Bernice wird Sie hinaufbegleiten.« Sie winkte
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