Bleib ungezaehmt mein Herz
an jene Zeit plötzlich so lebhaft in ihm erwachte, als wäre alles erst gestern geschehen.
Marthas Vater war ein kranker Mann gewesen, und sie hatte keine Brüder gehabt. So war dem verschmähten Verlobten die Aufgabe zugefallen, den Flüchtenden hinterherzufahren und Martha zurückzubringen, bevor sie in der Heiratsschmiede von Gretna Green die Ringe tauschten. Marcus hatte sie sehr schnell gefunden. Gracemere hatte keinerlei Absicht gehabt, Martha sofort nach Gretna Green zu bringen.
Sie war ein schlotterndes, übel zugerichtetes Wrack gewesen, als er die beiden aufstöberte. Ihr Liebhaber, ängstlich darauf bedacht, daß es keine Möglichkeit der Ungültigskeitserklärung gab, hatte sie wenige Stunden nach ihrer Flucht mit Gewalt genommen. Zerstört und möglicherweise schwanger, war Martha keine andere Wahl geblieben, als Gracemere als Ehemann zu akzeptieren - den einzigen Mann, der sie unter diesen Umständen nehmen würde.
»Ich habe die Verlobung aufgelöst, mit soviel Würde und Anstand, wie ich aufbringen konnte«, fuhr er im gleichen beherrschten Tonfall fort, und nichts deutete auf die heftig lodernden Flammen der uralten Wut in seinem Innern hin
- einer Wut, die ihn dazu gebracht hatte, Bernard Melville grün und blau zu schlagen.
»Und neun Monate später starb Martha, als sie ein totgeborenes Kind gebar. Gracemere erbte ihr gesamtes Vermögen, bis auf das Gut, das ihr Vater einem Neffen hinterließ. Er hatte bestimmt, daß Gracemere dieses Gut nicht auch noch bekommen sollte... wofür ich ihm nur dankbar sein kann, weil mir dadurch ein solcher Nachbar erspart geblieben ist.«
Er blickte auf, der Ausdruck seiner Augen war nicht zu deuten. »Befriedigt das deine Neugier, mein Luchs?«
Judith nickte. Aber in Wirklichkeit war ihre Neugier, die nur als bequeme Notlüge gedient hatte, jetzt erst erwacht.
Marcus ließ etwas aus in seiner Erzählung, sie konnte die heftigen Gemütsbewegungen spüren, die hinter seinem scheinbar unbewegten Äußeren tobten. Unter den gegebenen Umständen hatte sie jedoch keine andere Wahl, als seine Erklärung kritiklos zu akzeptieren. Die Leichtigkeit, mit der es ihr gelungen war, ihn zu täuschen, war aus irgendeinem unerfindlichen Grund schwerer zu ertragen als die Täuschung selbst. Er vertraute ihr jetzt genug, um ihre Lügen zu glauben.
»Ich weiß gar nicht, warum ich es wissen wollte«, sagte sie. »Schließlich ist es vor langer Zeit passiert.«
»Ja, als du ein kleines Mädchen von zwölf Jahren gewesen bist«, erwiderte Marcus mit einem trockenen Lächeln.
»Bist du sehr zornig?« Judith musterte ihn düster. »Du hast jedes Recht dazu, das gebe ich freimütig zu.«
Marcus runzelte die Stirn und strich sich übers Kinn. Für seine Gefühle schien ihr Geständnis die Sache völlig zu ändern. »Nein, ich bin nicht zornig. Du hast dich in eine höchst gefährliche und kompromittierende Situation gebracht, hast es aber immerhin geschafft, dich ziemlich geschickt aus der Affäre zu ziehen. Ich bin allerdings enttäuscht, daß du dich nicht dazu überwinden konntest, mir deine Fragen zu stellen. Ich dachte, was das betrifft, liefen die Dinge ziemlich glatt und problemlos zwischen uns.«
Oh, in welch gefährliches Gespinst wir uns mit unseren Lügen verstricken, dachte Judith, als sie die Enttäuschung in seiner Stimme hörte. Sie konnte sich wohl kaum auf eine Diskussion darüber einlassen, warum sie nicht in der Lage gewesen war, ihre erfundene Neugier mit ihm zu teilen. Sie bot ihm ein leicht hilfloses Schulterzucken als Antwort an, das er mit resigniertem Kopfschütteln zur Kenntnis nahm.
»Was tun wir, falls Gracemere tatsächlich vorhat, einen Skandal zu inszenieren?« fragte Judith, um das Thema zu wechseln.
Marcus' Ausdruck verhärtete sich. »Das wird er nicht.« Es war eine scharfe, knappe Feststellung.
»Aber wie kannst du so sicher sein?«
»Meine liebe Judith, traust du mir nicht zu, das sicherzustellen?« fragte er mit einer Stimme so hart wie Eisen. »Glaub mir, ich bin Gracemere durchaus gewachsen.«
Judith betrachtete sein energisch vorgeschobenes Kinn, die kompromißlose Linie seiner Lippen, die Augen wie schwarzer Feuerstein und zweifelte keine Minute daran, daß ihr Ehemann mehr als ein ebenbürtiger Gegner für Gracemere war - oder für jeden anderen, der auf die Idee kommen sollte, sich in seine Angelegenheit einzumischen.
Und wo blieb da seine Frau? Seine lügnerische, hinterhältige Betrügerin von einer Frau. Ein Schauder lief
Weitere Kostenlose Bücher