Bleib ungezaehmt mein Herz
Welt ist, einer Welt angespannter, höchster Konzentration. Er schob Judith energisch weiter in Richtung Tür, blind und taub für die Szene am Tisch.
»Nein...«, flehte Judith gepreßt. »Nein, bitte warte, nur noch eine Minute... es muß vollendet werden.«
Die Intensität in ihrer Stimme brachte Marcus aus dem Gleichgewicht, und er blieb stehen. Sebastians Stimme klang kalt und beherrscht in der vollkommenen Stille, die jetzt im Zimmer herrschte.
»Darf ich die Karte in Ihrer Hand sehen, Mylord?«
Sebastians lange Finger waren blutleer, als sie sich um Gracemeres Handgelenk schlossen und seine Finger auseinanderzwangen, um die Karte zu enthüllen, die in seiner Handfläche lag.
Marcus wandte langsam den Kopf, obwohl er seinen Griff um Judiths Ellenbogen nicht lockerte. Verwundert beobachtete er, wie sein Schwager die Karte aus der jetzt erschlafften Hand des Earls nahm. Er hörte seinen Schwager sagen: »Was für eine interessante Markierung am Rand, Gracemere. Ich glaube nicht, daß ich etwas Ähnliches schon einmal gesehen habe. Harry, würdest du dir bitte mal diese Karte anschauen?«
Judith seufzte, und die Verkrampfung schien schlagartig aus ihrem Körper zu weichen, als Harry Middleton seinem Freund die Karte abnahm. Marcus fragte sich, ob er jemals wieder irgend etwas verstehen würde. Und dann schwor er sich mit grimmiger Entschlossenheit, daß er das hier verstehen würde, und wenn er seine Frau auf die Folterbank legen müßte, um sich den nötigen Einblick zu verschaffen.
»Los, vorwärts!« zischte er, und der Druck seiner Knöchel gegen ihren Rücken verstärkte sich.
Judith protestierte nicht mehr. Sie mußte sich jetzt der einen Sache stellen, vor der ihr mehr als vor allem anderen grauste.
Judith und Marcus verließen Devonshire House, ohne sich höflich von ihren Gastgebern zu verabschieden, und fuhren in tödlich lastendem Schweigen nach Hause. Als die Kutsche vor Devlin House vorfuhr, sprang Marcus auf den Gehsteig, hob Judith mit Schwung heraus, bevor sie auch nur die Möglichkeit hatte, einen Fuß auf das Treppchen zu stellen, und bugsierte sie die Treppe hinauf und in die Eingangshalle hinein, wobei sich seine Knöchel die ganze Zeit tief in ihren Rücken gruben, so daß sie das Gefühl hatte, ihr Abdruck würde für alle Zeit auf ihrer Haut zu sehen bleiben.
Sie blickte freudlos zu ihm auf. »Ins Arbeitszimmer?«
»Ganz richtig.« Aber er erlaubte ihr immer noch nicht, ungehindert vorwärts zu gehen, sondern drängte sie energisch den schmalen Gang hinunter.
Er schob Judith in den Raum und knallte die Tür hinter sich zu. Judith fröstelte, weniger aus Angst vor dem, was er mit ihr tun würde, als aus Furcht vor dem, was sie ihm angetan hatte. Marcus ließ sie los, als die Tür ins Schloß fiel; dann trat er an den Kamin, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Sims, und der Ausdruck seiner Augen war finster, als er Judith schweigend anstarrte.
»Du wirst mir jetzt die Wahrheit sagen«, verlangte er nach einer Weile. »Schon möglich, daß du noch niemals in deinem Leben die volle Wahrheit gesagt hast, aber jetzt wirst du es tun. Du wirst alles sagen. Du wirst mir alles bis ins kleinste Detail gestehen, denn wenn du irgend etwas ausläßt - Gott helfe mir -, dann kann ich für die Konsequenzen nicht garantieren. Und jetzt fang an.«
Es war die einzige Chance, noch irgend etwas aus den Trümmern zu retten. Aber es war bestenfalls eine verzweifelte Chance. Judith holte tief Luft und begann am Anfang
- bei dem schicksalsträchtigen Tag vor zwanzig Jahren.
Marcus hörte zu, unbeweglich, schweigend, bis Judith zu Ende gesprochen hatte und die Wände des Raums sich um sie zu schließen schienen, das Gewicht ihrer Worte wie ein bleischweres Sargtuch jedes Vertrauen erstickend.
»Ich begreife jetzt, warum dein Bruder so eifrig darum bemüht war, Frieden zwischen uns zu stiften«, sagte Marcus leise und bedächtig, jedes Wort betonend, als formulierte er den Gedanken beim Sprechen. »Wenn du dich deinem Ehemann entfremdet hättest, wärst du Sebastian nicht mehr groß von Nutzen gewesen, nicht wahr?«
»Nein«, gestand Judith trostlos. Was sollte sie auch zu ihrer Verteidigung anführen?
»Ihr habt also beide nach dem perfekten Opfer Ausschau gehalten... das ist doch das richtige Wort, nicht? Dem perfekten Opfer, das euch eure lange geplante Racheaktion ermöglichen würde.«
Judith schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht wahr. Ich verstehe durchaus, wie du so etwas denken
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