Bleib ungezaehmt mein Herz
war so leise, daß man es fast unterschwellig nennen konnte. Marcus konnte über die Menschenmenge hinwegschauen. Er sah seine Frau, sah die gleichmäßigen, entschlossenen Bewegungen ihres Fächers. Und er wußte, was sie da tat. Sie und ihr Bruder betrogen den Earl von Gracemere unter den Augen der Londoner High-Society. Er konnte sich nicht vorstellen, aus welchem Grund, er wußte nur, daß er nichts dagegen zu tun vermochte. Er konnte dem nur ein Ende machen, indem er sie öffentlich bloßstellte.
Ein Gefühl von Hilflosigkeit und erbärmlicher Feigheit überfiel Marcus, und er wünschte sich verzweifelt, sein Abend in der Horseguard's Parade wäre nicht so früh zu Ende gewesen oder er wäre besser gleich von dort aus nach Hause gegangen, statt der Versuchung nachzugeben und hierherzukommen, um seine Frau zu finden. Unglücklich wünschte er sich, man hätte ihm dieses Wissen erspart, denn es war ein Wissen, mit dem er nicht umzugehen wußte. Ein Wissen, das Liebe zerstörte... das jegliche Form von Vertrauen und Zuversicht, auf der Liebe und Ehe fußen konnten, unmöglich machte.
In dem Augenblick, als das Landgut der Devereuxs wieder in die Hände seines rechtmäßigen Erben überging, begriff Agnes Barret alles. Bernard Melville war bei seinem eigenen Spiel von den Kindern des Mannes geschlagen worden, den er zwanzig Jahre zuvor zerstört hatte. Sie wußte nicht, wie sie es angestellt hatten, aber sie wußte, daß Bruder und Schwester Partner in diesem Spiel waren. Die scheinbar unbedarften Anfänger, die Naivlinge hatten gezielt auf diesen Moment hingearbeitet, von dem Tag an, als sie zum ersten Mal Londoner Boden betreten hatten.
Elende, ohnmächtige Wut stieg in Agnes' Kehle auf, als sie Bernards Miene blanken Unverständnisses sah, als er das letzte Spiel verlor. Agnes' Blick wanderte wieder hinauf zum Gesicht ihrer Tochter, die hinter ihm stand. Judith fing ihren Blick auf - und las die wilde Wut, den brennenden, unversöhnlichen Haß darin. Und in Judiths Augen trat ein Ausdruck kalten Triumphs, mit dem sie Agnes' zornfunkelnden Blick erwiderte. Agnes ließ ihr Weinglas fallen. Er glitt aus plötzlich gefühllosen Fingern auf das Parkett zu ihren Füßen, nach allen Seiten rubinrote Tropfen verspritzend.
Das ursprünglich gedämpfte Murmeln gewann an Lautstärke. Verzweifelt versuchte Gracemere, seine wirren Gedanken zu sammeln. Es gab noch eine Chance, alles wieder in Ordnung zu bringen. Vor zwanzig Jahren hatte er seinem Gegner eine markierte Karte zugespielt. Und George Devereux war entehrt und zerstört gewesen. Wenn er das gleiche noch einmal tun konnte, wenn er seinen Gegner in diesem Moment öffentlich bloßstellen konnte, würde alles, was er verloren hatte, wieder an ihn zurückfallen. Einem Betrüger würde man nicht erlauben, seine auf unehrenhafte Weise gemachten Gewinne zu behalten.
Hoffnung erwachte in ihm, und seine Verwirrung wich, als seine Gedanken eisig klar wurden. »Gut gespielt, Davenport«, sagte er in die angespannte Stille hinein. In einer kaum merklichen Geste schüttelte er seinen Ärmel hinunter und ließ eine darin verborgene Karte in seine Handfläche gleiten.
Judiths Fächer schnappte mit einem Ruck zu.
»Sie werden sicher nichts dagegen haben, wenn ich einen Blick auf...«
Bevor Gracemere den Satz beenden konnte, bevor seine Hand vorschnellen und die Karten seines Gegners auf dem Tisch berühren konnte - um dabei heimlich eine der Karten gegen seine markierte auszutauschen -, begann Sebastian Davenport plötzlich zu sprechen, und seine Worte ließen eine Welle der Übelkeit in der Kehle des Earls aufsteigen und füllten seinen Mund mit bitterer Galle.
»Gestatten Sie«, sagte George Devereuxs Sohn, das ausgestreckte Handgelenk seines Gegners packend. »Gestatten Sie, Mylord.«
In diesem Augenblick kam plötzlich Bewegung in Marcus. Er drängte sich durch die Menge zu seiner Frau durch. Er sagte nichts, packte sie nur beim Ellenbogen, und die Knöchel seiner anderen Hand drückten hart gegen ihren Rücken, zwangen sie vorwärts, weg vom Tisch.
Judith hatte von Marcus' Anwesenheit nichts bemerkt, und als sie zu ihm aufschaute, das entschlossen vorgeschobene Kinn sah, die zusammengepreßten Lippen, die schwarzen, unnachgiebigen Augen, da wußte sie, daß er alles beobachtet hatte. In diesem Moment verstand sie voll und ganz, was sie zu verlieren im Begriff war.
Marcus sah den benommenen Ausdruck ihrer Augen... den Ausdruck eines Menschen, der in einer anderen
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