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Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod

Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod

Titel: Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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Handgelenke waren mit Handschellen an den Spaltboden gefesselt. Der lippenlose Mund wirkte wie zum Schrei weit aufgerissen, und obwohl die Frau lange tot war, meinte Nele sehen zu können, wie sehr sie gelitten, wie verzweifelt sie geschrien und gebettelt hatte – und wie qualvoll sie gestorben war. Zwei kräftige Scheinwerfer strahlten die Box aus, betonten jedes noch so kleine Detail: die Blutspritzer an den Wänden, den Kot an den Metallstreben, wahrscheinlich vom Opfer stammend, die grässlichen Wunden.
    In ihrem ganzen Leben hatte Nele Karminter nichts Traurigeres und gleichzeitig Abstoßenderes gesehen, und die Verzweiflung, die sie in dem Gesicht, das keines mehr war, zu erkennen glaubte, ließ irgendwo tief in ihr eine betäubende Leere entstehen.
    Nele war wütend, verwirrt und den Tränen nahe, während sie vor der vier mal vier Meter großen, gemauerten Abtrennung stand, in der irgendwann einmal Schweine gehaust hatten. Ihre Wut war diffus und nicht fassbar und hatte nichts mit Anous Alleingang zu tun.
    Konnte man auf die Welt wütend sein?
    Weil sie so war, wie sie war?
    Nele musste an das Seminar denken. Welche These hatte Dr. Sternberg noch vertreten? Dass Psychopathen kranke Menschen seien, die streng genommen nicht verantwortlich seien für ihre Taten, weil sie nicht anders handeln könnten?
    Wir töten doch auch Tiere, die Menschen angreifen, weil es ihre Natur ist, dachte Nele – und fühlte sich in diesem Moment imstande, selbiges mit dem Täter zu tun, der hierfür verantwortlich war.
    Plötzlich hasste sie ihren Beruf. Er machte etwas aus ihr, was sie nicht mochte. Gleiches mit Gleichem zu vergelten war nie ihre Maxime gewesen.
    Mit einem Ruck wandte sie sich ab.
    Hinter ihr, auf seinem großen, rollbaren Alukoffer sitzend, wartete der Rechtsmediziner Klaus Quandt. Ein kurz vor der Pensionierung stehender, sehr erfahrener und routinierter Profi, dessen Schutzpanzer dicker war als der einer Schildkröte. Aber auch er wirkte deprimiert.
    »Zehn Monate noch«, sagte er und sah aus wässrigen Augen zu Nele auf. »In zehn Monaten höre ich auf, und seit ich einen Blick da reingeworfen habe, wünschte ich, ich hätte auf meine Frau gehört und vor drei Jahren den Vorruhestand beantragt. So eine verfluchte Scheiße!«
    Klaus Quandt hatte eine leise, melodische Stimme, der man keinen Fluch abnahm, auch diesen nicht.
    »Ich dachte auch gerade, ich schmeiße alles hin«, sagte Nele.
    Er zuckte mit den Schultern und erhob sich mühsam von seiner Kiste. »Das habe ich Hunderte Male gedacht, so wie die meisten, aber wir können gar nicht anders.«
    »Meinen Sie?«
    »Ich weiß es.«
    »Und was wissen Sie über die Tote?«
    Wieder zuckte er mit den dünnen, knochigen Schultern. »So gut wie gar nichts bisher. Ich sollte ja warten, bis Sie sie sich angesehen haben. Nach einer oberflächlichen, rein visuellen Untersuchung gehe ich von einer Verätzung aus. Wodurch, über welchen Zeitraum, Todesursache und Zeitpunkt … Tja, warten Sie die Leichenschau ab. Und die Identifizierung könnte ein schwieriges Unterfangen werden … Sie sehen es ja selbst. Kein Gesicht im herkömmlichen Sinne. Wenn wir kein zahnmedizinisches oder genetisches Vergleichsmaterial haben, wird es schwierig.«
    »Es würde dann auf eine Rekonstruktion hinauslaufen, oder?«
    »Und die versuchen Sie bei dem Budget mal durchzukriegen.«
    Nele nickte. »Danke, dass Sie gewartet haben.«
    »Keine Ursache.«
    Als Nele an ihm vorbeigehen wollte, legte Klaus Quandt ihr eine Hand auf die Schulter. »Sie dürfen es nicht persönlich nehmen«, sagte er.
    »Was?«
    Mit einem Nicken deutete er auf den Schweinekoben. »Dieser kranke Irre meint nicht Sie, er meint auch nicht mich oder überhaupt irgendjemanden, auch nicht das Opfer. Er denkt dabei nur an sich.«
    Nele sah Quandt in die Augen. Mit diesen wenigen Worten hatte er wiedergegeben, wofür Frau Dr. Sternberg wahrscheinlich ein ganzes Seminar gebraucht hätte.
    Sie nickte. »Aber das macht es nicht leichter, oder?«
    »Wenn Sie es schaffen, diese Typen als etwas nicht Menschliches zu betrachten, meinethalben als etwas Außerirdisches, etwas außerhalb unserer Vorstellung, dann hilft es. Ansonsten gehen Sie daran zugrunde.«
    Damit wandte er sich ab und betrat die Box.
    Seine Worte gingen Nele noch durch den Kopf, als sie nach draußen trat. Von dieser Warte aus hatte sie es noch nicht betrachtet, und sie wusste nicht, ob sie dazu überhaupt in der Lage sein würde. Irgendwann würden sie den

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