Bleicher Tod - Winkelmann, A: Bleicher Tod
zehn Jahren tagsüber unter null und nachts bei minus zehn Grad. Der Ostwind war beißend kalt gewesen und hatte nahezu ununterbrochen geblasen. Erst heute hatte er auf West gedreht, was aber auch keine Besserung, sondern Sturm und neuen Schnee bringen würde.
Wer würde bei solchem Wetter hier herauskommen, um sich mit einer Spraydose künstlerisch zu verewigen? Selbst ein Techtelmechtel auf dem Rücksitz eines Autos erschien Nele unwahrscheinlich.
»Ich hab jetzt schon das Gefühl, dass das hier eine langwierige Geschichte wird«, sagte sie.
»Warum?«
»Keine Ahnung. Nur so.«
»Das Seminar war wohl nicht der Brüller, oder?«, fragte Eckert. »Sehr motiviert siehst du jedenfalls nicht aus.«
»Das hat weniger mit dem Seminar als mit dem Anblick da drinnen zu tun.«
»Trotzdem könntest du etwas optimistischer sein.«
»Habe ich dazu einen Grund?«
»Na ja, immerhin haben wir eine Augenzeugin. Wenn diese Frau Singer nicht so großes Glück gehabt hätte, wäre sie jetzt wahrscheinlich ebenfalls an eines der Bodengitter da drinnen gefesselt.«
»Sie hatte kein Glück, sie hat gekämpft«, sagte Anou, die sich ihnen von hinten näherte.
»Meinetwegen«, meinte Eckert, »aber damit ist sie trotzdem der größte Aktivposten, den wir haben. Und wann hat man zu Beginn einer Mordermittlung schon mal eine Augenzeugin?«
Nele sah Eckert an, als hätte sie soeben einen Geist gesehen.
»Was ist?«, fragte der.
»Und wenn der Täter das genauso sieht?«
»Scheiße!«, stieß Anou aus.
»Wo ist die Frau?«
»Im Krankenhaus. Laut Aussage der Schwester wird sie übers Wochenende nicht entlassen.«
»Ruf an und überzeug dich davon, dass sie noch dort ist!«, befahl Nele.
Kurz darauf hatte Anou die Information des Krankenhauses an der Strippe. Zuerst weigerte sich die Dame, ihr am Telefon Auskünfte zu erteilen, willigte dann aber doch ein, ihr wenigstens zu verraten, ob Frau Singer noch stationär war.
Das war sie nicht.
Man hatte sie auf eigenen Wunsch hin entlassen.
Das Zimmer einer Achtzehnjährigen, angefüllt mit deren Leben. Auf der Fensterbank stand eine ausgestreckte Hand aus dunklem Holz. Verschiedene Ringe steckten auf den Fingern, um den Daumen waren Halsketten gewickelt, und irgendwie hatte Alex den Eindruck, diese Hand würde jedem zuwinken, der das Zimmer betrat. Es war, als grüße Daniela ihn von dem Ort aus, an dem sie sich gerade befand.
Der Geruch des Mädchens und dessen Aura waren so präsent, als hätte es das Zimmer erst vor ein paar Minuten verlassen. Dass Daniela bereits seit einem Monat verschwunden war und der Raum sich im Übergang zu einem der vielen grauenhaften Museen verlorener Kinder befand, war nicht zu spüren. Noch nicht.
Ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Schrank, ein Bett, alles aus hochwertigem Holz. Ein nicht dazu passendes, weißes Regal, vollgestopft mit Büchern, CDs, DVDs und allerlei Nippes. An den Wänden hingen zwei Poster eines aktuellen Vampirfilms, die Teenagervampire mit Sixpack und cooler Frisur abbildeten. Auf dem Bett türmte sich eine große Anzahl Kissen auf. In der linken hinteren Ecke befand sich ein hoher Spiegel mit vier Lampen darüber und einem kleinen Board darunter, auf dem unzählige Schminkartikel lagen. Ein großer schwarzer Föhn baumelte an seinem Kabel, als sei er erhängt worden.
»Sie haben aufgeräumt, oder?«, fragte Alex, ohne Elke Gerstein anzusehen, die hinter ihm auf der Schwelle stand.
»Na ja, nachdem die Polizei da war, war alles so unordentlich, und Daniela soll es doch schön haben, wenn sie …«, sie schluckte trocken, »wenn sie wieder nach Hause kommt.
Alex nickte, trat vor das Regal und zog wahllos ein Buch hervor.
Tintenherz.
»Ihre Tochter mag Bücher?«
»O ja! Daniela hat immer ein Buch dabei. Egal, wohin sie geht. Sie kann sich stundenlang verkriechen und lesen. Dann dürfen wir sie auf keinen Fall stören.«
»Hat sie ein Tagebuch geführt?«
»Das haben die Polizisten auch gefragt. Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Beim Aufräumen habe ich jedenfalls keines gefunden.«
Alex zog wahllos weitere Bücher aus dem Regal, klappte sie auf und ließ die Seiten über seinen Daumen rutschen.
Menschen, die immer und überall Bücher dabeihatten, neigten dazu, alles als Lesezeichen zu nutzen, was ihnen gerade zwischen die Finger kam. Daniela schien aber eine Ausnahme zu sein. Außer dem Flyer eines Pizzalieferdienstes fand Alex nichts.
»Soll ich uns nicht doch einen Kaffee machen?«, fragte Frau Gerstein.
Sie
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